Die Tochter des Magiers 03 - Die Erwählte
zerteilte.
»Was ist das hier?«, fragte Maru.
»Als Schreiber habe ich manchmal Botengänge zu erledigen. Dieser Weg führt in die hinteren Schreibkammern, ohne dass man durch all die Höfe und Gänge irren muss.«
»Und was wollen wir dort?«
»Oh, eigentlich nichts, aber am Ende dieser Gasse gibt es eine Treppe zur Mauer. Wenn wir etwas Glück haben, ist dieser Weg frei.« Sie hatten Glück. Keine Wache versperrte ihnen den Weg hinauf zur Mauer, die die Oberstadt umschloss. »Es gibt zwei Türme bis zum Kydhischen Tor, doch sind die meist verschlossen«, erklärte Temu, während sie über die Mauer eilten. Maru blickte hinab auf den Edhil-Platz. Er war ein Meer von Köpfen.
»Ich denke aber«, fuhr Temu fort, »die Wachen am Tor lassen mit sich reden. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass sie uns den ganzen Weg zurückschicken werden«, meinte er, als sie die Mauer entlangliefen.
Weil sie ihn um Hilfe gebeten hatte, nahm er offenbar als ganz selbstverständlich an, dass sie mit ihm ins Bet Schefir wollte. Das wollte sie zwar nicht, aber ihr Ziel lag ungefähr in der gleichen Richtung, also lief sie dem Schreiber erst einmal hinterher. Ein Krieger lehnte am ersten Turm des Kydhischen Tores und blickte gelassen auf den Strom der Menschen hinab, die von der Weißen Seite in die Oberstadt drängten. Er war nicht halb so entgegenkommend, wie Temu angenommen hatte: »Dies ist eine Mauer zur Verteidigung unserer Stadt«, erklärte er herablassend, »keine Gasse für kleine Mädchen und Diener.«
»Ich bin kein Diener, sondern Schreiber, und in eiligem Auftrag unterwegs, edler Krieger. Ich muss dringend ins Bet Schefir«, log Temu.
Er war ein schlechter Lügner. Der Krieger schenkte ihm keinen Glauben: »Nun, Schreiber, dann hast du sicher ein Siegel, das mir die Wichtigkeit deines Auftrages verdeutlicht?«
»Höre, tapferer Krieger, du musst nur einen Schritt zur Seite treten, und schon bist du uns los«, bat Temu.
»Ich bin euch auch los, wenn ihr umkehrt und den Weg zurücklauft, den ihr gekommen seid. Wenn ich erst einen hindurchlasse, werden viele folgen wollen. Und was soll ich denen dann
sagen? Nein, du brauchst ein Siegel, Schreiber, – oder einen silbernen Schlüssel.«
Temu starrte den Krieger verdattert an. Verstand er nicht, dass der Mann bestochen werden wollte? Maru entschied, dass dafür keine Zeit war. Sie legte dem Krieger sanft die Hand auf den Arm und setzte ihre Zauberstimme ein.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Temu, als sie die Treppe des Turms hinabsprangen.
»Ich kann sehr überzeugend sein, wenn es sein muss«, erwiderte Maru knapp. Wika hatte sie davor gewarnt, ihre Fähigkeiten einzusetzen, hatte behauptet, die Maghai würden das spüren und sie dann suchen. Doch die Maghai hatten sie ja schon gefunden, also würde es darauf nun auch nicht mehr ankommen. Die Straßen waren auch in diesem Teil der Oberstadt voller Menschen. Sie hasteten weiter.
»Wo willst du hin?«, fragte Temu verwundert, als Maru auf der Hauptstraße plötzlich abbog.
»Wir gehen nicht ins Bet Schefir«, rief Maru.
»Nicht?«, fragte Temu.
»Nein, ich muss nach Hause, etwas holen, und dann brauche ich deine Hilfe.«
»Also doch ins Bet Schefir?«
»Warte es einfach ab«, antwortete Maru lächelnd. Temu war ein neugieriger Mensch, und er würde ihr gerne folgen, solange seine Neugierde wach war. Wenn er erst einmal wusste, was sie von ihm erwartete, würde sich seine Begeisterung vermutlich schnell abkühlen. Im Haus des Richters war es still. Maru lauschte, als sie eintrat. Sie spürte keinerlei Gefahr. Hatte der Iaunier das Haus verlassen? Jemand war in der Küche, doch es klang nicht wie Noitilomor.
»Yalu?«, rief sie vorsichtig.
Der Kopf des stummen Dieners zeigte sich im Gang. Er stieß
ein paar Laute aus, die Maru als Willkommensgruß verstand. Er schien sich zu freuen, sie zu sehen. Dann machte er das Essenszeichen. Maru schüttelte den Kopf. Sie drehte sich um. »Temu? Willst du etwas essen? Ich glaube, Yalu hat etwas vorbereitet.«
»Essen? Du liebe Güte. Ich weiß nicht, ob ich etwas essen kann, an so einem Tag.«
»Versuch es einfach und warte in der Küche auf mich, ich muss nur schnell etwas holen.«
Sie lief durch den Innenhof. Es war so ruhig und friedlich. Der Brunnen plätscherte leise vor sich hin. Das gefiel ihr nicht. Tasil war vermutlich noch auf der anderen Seite des Flusses, den würde sie hier also kaum antreffen. Aber wo war Utukku? Aus irgendeinem Grund ging sie
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