Die Tochter des Magiers 03 - Die Erwählte
längst erwartet. Jedes Mal, wenn sie auf ihren nächtlichen Fahrten vor der Erwachten ans Ufer geflohen waren, hatte sie insgeheim nach ihm Ausschau gehalten. Warum war er erst jetzt gekommen? Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und rechnete nach. Vor einem Jahr, in Serkesch, war sie ihm zum ersten Mal begegnet, vor einem halben Jahr dann wieder, im Isberfenn. Nein, genauer, es waren zwölf Neue Monde seit dem ersten, und sechs seit dem zweiten Aufeinandertreffen aufgegangen. War es das? Brauchte er ihr Blut alle sechs Monde? Und stimmte es, was er sagte, dass es das letzte Mal sein sollte? Sie schüttelte den Kopf. Darauf kam es nicht an. Sie würde es ihm nicht geben, auf keinen Fall. Er hatte ihr zwar zweimal das Leben gerettet, doch wie viele Menschen waren seither gestorben? Und wenn er ihr Blut wirklich nur noch einmal brauchte – wer wusste, ob er sie danach am Leben ließ? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Was hatte er vor? Er konnte das doch nicht ernst gemeint haben, dass er alle Akkesch töten würde. Es lebten tausende entlang des Dhanis. Und sie hatten sich mit anderen Völkern vermischt, wenn auch nur in geringem Maße, weil sie lieber unter sich heirateten und viel von der Reinheit ihres Blutes faselten. Wenn sie wüssten, dass dieses Blut ihr Verhängnis in sich trug, würden sie vielleicht anders darüber denken. Maru strich mit ihrer zitternden Hand durch den Brunnen. Das kühle Wasser
erschien ihr mit einem Mal feindselig. Was sollte sie tun? Sie konnte nicht herumsitzen und warten. Sie musste etwas unternehmen, ihn aufhalten, irgendwie. Sie schloss die Augen. Erst denken, dann handeln, mahnte sie sich. Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie sprang auf und suchte Yalu. Sie fand ihn in seiner Kammer. Er kniete auf dem Boden und schien zu beten.
»Verzeih, wenn ich dich störe, Yalu«, begann sie.
Der Stumme blickte sie gedankenverloren an. Er musste sehr im Gebet versunken gewesen sein. Es tat ihr auch leid, dass sie ihn unterbrechen musste, doch es war nicht zu vermeiden. »Wenn Tasil oder ein Bote von ihm kommt, um mich abzuholen, schick ihn ins Bet Schefir. Dort wird er mich finden.«
Yalu überlegte einen Augenblick, dann nickte er. Er verstand es überraschend gut, sich auch ohne Zunge verständlich zu machen, und das Haus der Schrift war nicht weit. Zur Not konnte er den Boten selbst hinführen. Sie steckte eilig das Essen für Temu ein und lief aus dem Haus. Es galt, keine Zeit mehr zu verlieren. Utukku hatte vor, alle Akkesch zu töten, Männer, Frauen und Kinder, von Kaidhan Luban bis zum einfachen Fischer. Das war Wahnsinn. Aber er meinte es ernst. Und wie immer er das auch anstellen wollte, sie musste es verhindern. Schon jetzt brachte er durch die Zermalmerin Tod und Zerstörung über die Ufer des Flusses. Sie wollte sich nicht ausmalen, wie es erst sein würde, wenn der Bann, der ihn noch schwächte, endgültig gebrochen war. Aber so weit würde es nicht kommen. Sie würde ihn aufhalten – um jeden Preis. Sie lief langsamer. Der Schreiber konnte ihr vielleicht weiterhelfen, das war möglich. Aber würde das reichen? Konnte sie mit Hilfe einer Tafel aus Ton einen Daimon besiegen? Ihr sank der Mut. Unter Umständen musste sie noch andere Hilfe in Anspruch nehmen, gefährliche Hilfe. Sie schüttelte den Gedanken trotzig ab. Eines nach dem anderen.
Sie fand Temu mit dem Kopf auf dem Tisch und fest schlafend vor. Die Öllampe war ausgegangen, und nur wenig Licht zwängte sich durch enge Fensterspalten in den großen Saal. Der Schreiber hatte sich gemeinsam mit ihr die ganze Nacht um die Ohren geschlagen und vermutlich einfach vergessen, dass er auch einmal schlafen musste. Sie fand etwas Öl, füllte die Lampe auf und weckte Temu vorsichtig. Er blinzelte sie an. »Bringst du die Berichte aus Igaru?«, fragte er.
»Nein, ich bin es, Maru, das Mädchen, dem du suchen hilfst. Und das dir Essen bringt«, fügte sie mit einem Grinsen hinzu und hielt ihm das Bastpäckchen unter die Nase.
Temu reckte sich und gähnte verstohlen. »Für das Wort ›Mädchen‹ bist du eigentlich schon zu alt, Maru. Wie spät ist es?«
»Es ist Nachmittag, die elfte Stunde vielleicht. Bist du wach?«
»Ich könnte nicht mit dir reden, wenn ich nicht wach wäre«, brummte Temu. Er reckte seinen Hals, das die Knochen knackten. Dann blickte er sie erschrocken an. »Sagtest du elfte Stunde? Bei Fahs, schon so spät? Ich habe so viel zu tun!«
»Du solltest vielleicht zuerst etwas essen,
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