Die Tochter des Münzmeisters
Sohn Goswin, der schon immer ein Abbild seines Vaters gewesen war.
Ihre Finger hatten sich in die Decke gekrallt, die sie abends vor die Öffnung hängen ließ. Ihr Gebiss schmerzte, da sie die Kiefer aufeinanderpresste. Von den Tränen, die über ihre Wangen liefen, bemerkte Edgitha nichts. Noch immer hallten die Wortfetzen in ihrem Kopf nach, die durch die Fensteröffnungen zu ihr gedrungen waren, denn die beiden Räume lagen nebeneinander.
Direkt gegenüber befand sich das Gemach ihrer Enkeltochter, die von Gottwald die weizenblonden Haare und von ihr selbst die vollen Lippen geerbt hatte. Edgitha vergötterte die junge Frau, vielleicht auch deshalb,weil sie an der Enkelin wiedergutmachen wollte, was sie ihrer Tochter in den letzten Monaten ihres jungen Lebens angetan hatte. Denn auch darunter litt Edgitha noch immer. Jedes Mal, wenn sie Henrika gegenüberstand, ward sie an ihre eigene Herzlosigkeit erinnert.
Henrika besaß genau wie ihre verstorbene Mutter hohe Wangenknochen und in Kindertagen auch deren stürmische Art, mit der es allerdings seit Pfingsten vor neun Jahren schlagartig vorbei war. Seit diesem Ereignis, das Henrika aus reiner Neugier miterlebt hatte, war sie extrem in sich gekehrt und still. So wie Edgitha sich immer ihre eigene Tochter gewünscht hatte, doch nun empfand sie es als Strafe und wünschte sich sehnlichst das frühere Temperament und die übersprühende Lebensfreude des Mädchens zurück.
Edgitha beschwor das Bild Henrikas herauf, und ihr wurde mit einem Mal ganz warm ums Herz. Alle liebgewonnen Personen vereinigten sich in der jungen Frau. Einzig die tiefgrünen Augen wollten nicht so recht in die Familie passen.
Als es klopfte, zuckte Edgitha zusammen. Dann straffte sie sich und forderte den Besucher auf einzutreten.
3. KAPITEL
E in lautes und forderndes Juchzen ließ Henrika aus ihren Träumen aufschrecken. Schnell wandte sie sich wieder ihrer kleinen Base zu, deren Kräfte augenscheinlich nachließen. Erneut stemmte sich das Baby mit beiden Händen hoch, doch die kleinen Ärmchen konnten das Gewicht nicht länger tragen und sackten zusammen, begleitet von einem empörten, noch lauteren Schrei. Lachend beugte sich Henrika zu dem lauthals schreienden Bündel herunter und nahm es auf den Arm.
»Du musst dich nicht so schrecklich ärgern, Adelheidis. Ein wenig mehr Geduld könnte auch dir nicht schaden, weißt du.«
Als sich die junge Frau mit dem Baby auf dem Arm von der ausgebreiteten Decke erhob, hatte es schon aufgehört zu schreien. Henrika wiegte es langsam hin und her, während sie den Blick über die Landschaft gleiten ließ. Nicht weit von ihr plätscherte ein kleiner Bach, der die Menschen, die in dem großen Fachwerkhaus hinter ihr wohnten, mit genügend Wasser versorgte. Henrika liebte alles hier und war froh, dass ihr Vater ihr erlaubt hatte, früher zu reisen. Tief atmete sie die warme Luft des späten Nachmittags ein und legte den Kopf in den Nacken, während sie die Augen schloss, um nicht von den hellen Sonnenstrahlen geblendet zu werden. Hier bei ihrem Onkel und seiner Frau fühlte sie sich seltsam frei und trotzdem geborgen, hier gab es keine schlimmenErinnerungen an das Erlebnis ihrer Kindheit, das sie in ihrer Entwicklung geprägt hatte. Nicht bewusst, dazu war sie noch zu jung gewesen, es war einfach so geschehen.
Mit ihrem Oheim verband sie ein enges Band, und aus lauter Zerstreuung redete er sie gelegentlich mit dem Namen ihrer Mutter an. Es störte sie nicht im Geringsten, denn sie wusste aus seinen Erzählungen, wie sehr er an Hemma gehangen hatte.
Als die junge Frau sich nähernde Pferde hörte, öffnete sie schnell die Augen und kniff sie sofort wieder leicht zusammen, um besser sehen zu können. In einiger Entfernung konnte sie zwei Reiter ausmachen, die sich dem Hof ihres Oheims näherten. Hastig bückte Henrika sich und griff nach der Decke, während sie mit einem Arm ihre kleine Base festhielt. Dann lief sie zum Hof.
Sie hatte ihn fast erreicht, als ihr Onkel ihr entgegenkam und winkte.
»Henrika, komm ins Haus, Mathilda braucht dich für die Zubereitung des Abendessens«, rief er, dann runzelte er die Stirn, als er ihr gerötetes Gesicht bemerkte. Im selben Moment erblickte er den Grund für ihre Eile, denn die beiden Reiter kamen hinter einer Baumgruppe hervor und waren nur noch knapp einhundert Meter vom Hof entfernt.
»Geh ins Haus«, wies er seine Nichte an und wischte sich die verschwitzten Hände an seinem fleckigen Hemd ab. Durch
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