Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
Schuldbewusst fragte er sich, wie viel Bunkichi über das Treffen mit Taka wusste. In Tokyo ein Geheimnis zu bewahren war schwer, vor allem im Haus von Mori. Daran hätte er denken sollen. Zu diesem Zeitpunkt Umgang mit dem Feind gehabt zu haben, könnte fast als Hochverrat betrachtet werden.
»Erinnerst du dich an Shige?«, fragte Bunkichi.
Nobu nickte.
»Die Dame hatte einen Brief für dich gebracht. Sie wollte, dass Shige ihn dir weitergibt.«
Nobu schluckte. Das Letzte, was er von Bunkichi und Zenkichi erwartet hatte, waren Neuigkeiten von Taka. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine gleichmütige Fassade aufrechtzuerhalten.
»Shige wusste nicht, wo du warst«, sagte Zenkichi. »Ich glaube, sie wollte sich nicht einmischen.« Die beiden Dienstboten wechselten Blicke.
»Und was ist mit dem Brief passiert?« Nobu bemühte sich um einen beiläufigen Ton, doch es gelang ihm nicht ganz, das Zittern in seiner Stimme zu verbergen.
»Shige wollte ihn nicht annehmen.«
»Du meinst, es gab keine Botschaft, nichts?« Seine Hoffnung war zu hochfliegend gewesen. Jetzt folgte der Rücksturz zur Erde. Bunkichi blickte zu Zenkichi.
»Sie kam im zehnten Monat, vor langer Zeit, und wir haben es nur von Shige gehört. Ich glaube, sie sagte, sie würden Tokyo verlassen. Sie mussten recht plötzlich aufbrechen. Als du Kagoshima erwähnt hast, fiel es mir wieder ein. Kam mir wie ein seltsamer Ort vor, um dorthin zu gehen, aber jetzt fahren wir alle dahin. Kagoshima. Dort wollten sie hin. Nach Kagoshima.«
Bunkichi und Zenkichi gingen wieder unter Deck, und Nobu kehrte in seine Kajüte zurück. Sie kam ihm kleiner und überfüllter vor denn je, sogar die Temperatur war noch gestiegen. Seine Kameraden lagen herum und fächelten sich Luft zu. Nobu stieg über sie hinweg, griff nach seinem Tornister und wühlte darin herum. Da waren Bücher, Kleidung und Wäsche zum Wechseln, Stifte, Handtücher. Seine Finger schlossen sich um ein gefaltetes Papier – der Brief, den sein Bruder Kenjiro ihm geschickt hatte.
Nobu ging zurück an Deck und fand eine Ecke, in der er ungestört war. Er musste seine Gedanken ordnen, zur Vernunft kommen. Vorsichtig faltete er den Brief auf und betrachtete die wunderschön gepinselten Schriftzeichen. Inzwischen hatte er den Brief so oft gelesen, dass er ihn auswendig konnte.
Er war vom 25. Mai datiert.
Sei gegrüßt. Der Wanderer des Ostmeeres ist wieder auf den Beinen. Meine Gesundheit ist zurückgekehrt, und ich stecke meine Nase nicht mehr in die Bücher. Die Trägheit hat ein Ende! Mit dem Schwert in der Hand verlasse ich Tokyo in aller Eile, um mich den Regierungstruppen in Kyushu anzuschließen. Unsere Zeit ist gekommen, und wir müssen diese Chance ergreifen, Rache zu nehmen an den Satsuma, denn wie können wir sonst den Geistern gegenübertreten, die unter der Erde von Aizu liegen? Wir werden uns auf dem Schlachtfeld treffen oder am Tag des Sieges oder an welchem Ort wir uns auch immer wiederfinden, wenn wir dieses Leben verlassen. Dein Bruder Kenjiro.
Durch die Tränen in seinen Augen konnte Nobu die Worte kaum erkennen. Er hatte Kenjiro zum letzten Mal auf dem Krankenbett gesehen, fahl vor Gelbsucht, kaum in der Lage, sich auf den Ellbogen aufzustützen. Immer wieder war Kenjiro krank gewesen, doch er war kein Mann, der sich durch schlechte Gesundheit daran hindern ließ, neben seinen Clan-Gefährten zu kämpfen. Ja, er schien den Krieg sogar zu brauchen, um wieder gesund zu werden. Nobu wusste noch, wie Kenjiro sich zu Hause in Aizu vor fast neun Jahren aufgerappelt hatte und hinausgestolpert war, um sich an der Verteidigung der Burg zu beteiligen.
Trotzdem wusste Nobu nicht, wie sein gebrechlicher Bruder mit Härte und Entbehrungen fertigwerden würde. Hoffentlich war er am Leben und gesund, an vorderster Front irgendwo in Kyushu, mit dem Gewehr in der Hand. Nobus ältester Bruder Yasu war, trotz seines verletzten Beins, ebenfalls bei erster Gelegenheit nach Süden aufgebrochen, während Gosaburo, der dritte, ihren Vater in Aizu verlassen und sich den Polizeikräften angeschlossen hatte, damit auch er nach Süden gehen konnte.
Der Regierung war der Hass des Nordens auf die Satsuma durchaus bekannt, und man hatte kurz nach Ausbruch der Feindseligkeiten begonnen, Samurai aus dem Norden für den Kampf zu rekrutieren. Soldaten, die von der Front zurückkehrten, waren voller Geschichten über den außerordentlichen Mut der Aizu-Krieger. Männer, die sie in Aktion gesehen hatten, sprachen
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