Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
wich zurück und schwang die Klinge im gleichen Atemzug hoch, schlitzte den Brustkorb ihres imaginären Feindes auf. Sie drehte sich auf den Zehen, wirbelte den Schaft und hieb mit der Parierstange auf das Gesicht des Feindes, stach ihm in die Augen, mähte ihn von den Beinen und zielte mit einem schlitzenden Hieb auf seine Schienbeine.
Yuko schwang die schwere Waffe so mühelos, als wäre sie ein niedlicher Fächer. Voller Ehrfurcht schaute Taka zu. Sie konnte sich nicht vorstellen, die Schwertlanze jemals mit solcher Leichtigkeit handhaben zu können. Sie wünschte, sie hätte schon als Kind kämpfen gelernt, aber nur die Frauen der Samurai wurden im Kampf ausgebildet. Taka war im Geisha-Bezirk aufgewachsen und dann in Tokyo, wo sie das Leben einer modernen jungen Frau geführt, modische Kleider und Schuhe getragen hatte, in Kutschen durch Straßen voller Steinhäuser gefahren war und nicht das geringste Interesse an den Kriegskünsten gezeigt hatte.
Mehr als zwei Monate waren vergangen, seit Takas Vater an der Spitze seiner Armee aus der Stadt geritten war, mehr als zwei Monate, seit sie beobachtet hatte, wie die letzten Gestalten zu ameisengroßen Punkten zusammenschrumpften, bis sie von der riesigen weißen Fläche des Berghangs verschluckt wurden.
Nun wirkte die Stadt wie eine leere Hülle, aus der alles Leben geflohen war. Auf dem Heimweg entlang der breiten Alleen des Samurai-Bezirks, durch den Kaufmannsbereich der Stadt mit seinen Geschäften und Lagerhäusern und in die schmalen Gassen des Geisha-Viertels waren ihr die letzten Worte ihres Vaters nicht aus dem Sinn gegangen. Auch du bist eine Kitaoka , hatte er mit seiner tiefen Stimme zu ihr gesagt. Vergiss das nie. Sie sah ihn immer noch auf seinem Pferd, in seiner Uniform, mit den breiten Schultern, dem funkelnden Blick und den buschigen schwarzen Brauen.
Es war so offensichtlich, dass es kaum einer Erwähnung bedurft hätte, und doch hatte sie nie darüber nachgedacht. Sie war nicht nur die Tochter einer Geisha. Sie war die Tochter eines Samurai, die Tochter des größten aller Samurai. Doch was bedeutete das? Was wurde von ihr erwartet? Sie würde es herausfinden müssen.
Während die Tage eintönig vergingen, bemühten sich ihre Mutter, Tante Kiharu und Okatsu, so zu tun, als hätte sich nichts geändert. Sie wischten Staub, polierten, nähten, plauderten, kochten und besuchten die wenigen Geishas, die nicht mit der Armee fortgezogen waren. Alle reduzierten ihre Mahlzeiten, um Vorräte für ihre Männer aufzusparen. Die Stadtleute füllten Lagerhäuser mit Fässern voll Shochu und riesigen Reissäcken, eingelegtem Gemüse und Hirse, die auf Packpferden durch die Berge transportiert wurden, wenn Boten mit der Forderung nach Nachschub eintrafen. Für sich behielten sie nur die Süßkartoffeln.
Wenn die Boten gefragt wurden, was an der Front geschah, kam als Antwort nur: »Wir siegen! Wir siegen!« Anfangs waren alle überglücklich, doch nach einer Weile wünschte man sich, man würde Konkreteres erfahren.
Zu Beginn waren viele Nachrichten eingetroffen. Der Marsch durch den Schnee um die Bucht und hinauf in die Wälder und Berge war anstrengend gewesen, aber die Männer hatten es geschafft und waren wie siegreiche Helden empfangen worden. In den ersten paar Tagen waren die Menschen in jeder Stadt auf die Straßen gelaufen, hatten getrommelt, gejubelt und Shamisen angeschlagen. Sieben Tage harten Marschierens waren nötig gewesen, um die große Stadt Kumamoto zu erreichen. Unterwegs hatte sich die Nachhut mit den anderen Bataillonen vereint, und die gesamte große Armee zog auf die eindrucksvolle Burg von Kumamoto zu.
General Kitaoka hatte an den kommandierenden General der Burg geschrieben und freien Durchgang gefordert. Die Soldaten der dortigen Garnison stammten aus Kyushu, und der General war ein persönlicher Freund von General Kitaoka, daher würde man sie höchstwahrscheinlich willkommen heißen und sich ihnen auf dem langen Marsch nach Tokyo anschließen. Selbst wenn sie sich für die Seite der Regierung entschieden, waren die meisten wehrpflichtige Bauern, unerfahrene Rekruten, die gegen die gut ausgebildeten, kampferprobten Satsuma keine Chance hätten.
Doch seltsamerweise – so kam es den zu Hause ängstlich wartenden Frauen zumindest vor – gewährte der General keinen freien Durchgang, und General Kitaoka verschanzte sich mit seiner gewaltigen Armee, um die Burg zu belagern. Alle waren davon überzeugt, dass die dortige Garnison
Weitere Kostenlose Bücher