Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
anderen.
Der Tag begann mit der Morgenrezitation, bei der die Mädchen alle mit lauter Stimme vorlasen. Sie lasen unterschiedliche Passagen, woran sie gerade arbeiteten, also war es ziemlich laut. Dann kam die Schreibübung. Der Lehrer pinselte ein Schriftzeichen für Taka, und sie schrieb es so lange nach, bis sie es beherrschte, bevor sie zum nächsten überging. Bald waren ihre Hände mit Tusche beschmiert.
An diesem Tag begannen sie mit einem klassischen Text. Die anderen lasen fließend, doch als Taka dran war, geriet sie ins Stocken.
Später, als sie ihre Bücher einsammelten, um nach Hause zu gehen, hin und her liefen und das Klassenzimmer ausfegten, redeten die Mädchen über die Kirschblüten, die tief über den Straßen und der Tempelanlage hingen.
»Wir machen morgen ein Picknick und gehen die Kirschblüte anschauen«, sagte die hochgewachsene, schlanke Ohisa. Sie gab sich stets aristokratisch und war so modisch, dass sie selbst in der Schule westliche Kleidung trug.
»Ja, heute ist es so weit«, bekräftigte die kleine Yuki mit der Brille. »Meine Mutter sagt, die Kirschblüte ist auf dem Höhepunkt.«
»Gab es da nicht ein Lied über Kirschblüten?«, fragte Ohisa mit einem Blick zu Taka. Taka lächelte und nickte, erfreut, in das Gespräch einbezogen zu werden. Sie summte »Sakura, Sakura«, das berühmte Lied, das die Geishas zu dieser Zeit sangen, und bewegte ihre Hände im Rhythmus auf und ab. Eigentlich erwartete sie, dass die anderen einfallen würden, aber sie starrten sie nur an und prusteten vor Lachen. Zu spät erkannte sie, dass sie in eine Falle getappt war.
»Du würdest es ja wissen, oder?« Ohisa zog jedes Wort absichtlich in die Länge. »Was war deine Mutter noch mal? Eine Geisha, nicht wahr?«
Taka verstummte und senkte den Kopf. Sie war als die Schwindlerin bloßgestellt worden, die sie war. Mit brennenden Wangen, immer noch gekränkt über die höhnischen Worte, rannte sie hinaus zur Rikscha. Tränen standen ihr in den Augen. Selbst der Anblick von Nobu, der draußen mit Gonsuké wartete, konnte ihre Stimmung nicht heben.
Zu Hause war die Feier ihrer Mutter in vollem Gange. Das Klimpern der Shamisen und das schrille Lachen der Geishas machte alles noch hundertmal schlimmer. Taka machte auf dem Absatz kehrt und ging in den Garten. Sie würde unter den Kirschbäumen spazieren gehen. Das würde sie aufmuntern.
Hinter sich hörte sie die hohe Stimme ihrer Dienerin Okatsu. »Herrin, Herrin, wohin gehen Sie? Bald wird es dunkel. Da draußen könnten Füchse und Schlangen sein. Sie können nicht allein hinausgehen.«
»Dann komm mit.«
Takas Mutter rief aus dem Haus. »Okatsu, wo bist du? Ich brauche dich, sofort.«
Stille entstand. Taka hatte sich bereits ein ganzes Stück vom Haus entfernt. Okatsus Stimme erschallte. »Nobu, du fauler Kerl. Was machst du? Geh mit der jungen Herrin.«
Eilige Schritte kamen hinter ihr her. Sie achtete nicht darauf.
In den fünf oder sechs Jahren, seit sie hier lebten, hatte Taka alle Winkel des Anwesens erforscht. Es war riesig, wie ein Stück Landschaft am Rand der Stadt, groß genug, um sich vollständig darin zu verlaufen. Eine ganze Armee von Gärtnern war nötig, um alles in Schuss zu halten. Teile waren landschaftlich gestaltet und malerischen Orten in Japan nachempfunden, mit Hügeln und Teichen, Pavillons, Brücken und gewundenen Pfaden, mit Steinlaternen und Teehäusern, so geschickt verborgen, dass der Spaziergänger mit einem erfreuten Gefühl der Überraschung darauf stieß. Andere Teile hatte man absichtlich unberührt gelassen. Am hinteren Rand des Grundstücks führten Pfade an einem Bambushain vorbei in bewaldetes Gelände. Hellrosa Kirschblüten sanken wie Schnee herab, häuften sich auf den Pfaden und wurden gegen Felsen und Baumstämme geweht.
Missmutig trottete Taka durch die Blüten, nahm kaum wahr, dass Nobu ihr folgte. Nun, da sie ein Samurai-Mädchen zu sein hatte, war ihr der Umgang mit Jungen nicht mehr erlaubt. Aber Dienstboten waren etwas anderes, sie zählten nicht als Jungen oder Männer, waren eine andere Gattung.
»Ich hasse die Schule«, fauchte sie erbittert und stapfte den Hang hinauf, der in den Wald führte. Vor sich sah sie die Bäume, ein verlockendes Laubgewirr. Eine Brise ließ die Blätter rascheln. »Ich geh da nie wieder hin.«
»Das müssen Sie aber.« Überrascht drehte Taka sich um. Sie hatte nicht mit einer Antwort gerechnet. »Nur so können Sie lernen. Sie haben solches Glück, dass Sie zur
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