Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
nach der Wasserflasche um. Der Raum war ordentlich, die dünnen Reisstrohmatten auf dem Holzboden sauber gewischt. Kenjiros Brille lag neben Pinseln, Reibstein, Tuschestange und Papier auf einem niedrigen Tisch, an dem er seine Schreibarbeiten erledigte, und auf dem Boden stapelten sich Bücher – chinesische Klassiker, hübsch gebunden, Werke von Saikaku, Bakin und anderen japanischen Autoren, dazu sogar zwei Bände in westlichen Sprachen. Nobu entzifferte die Titel: Über die Entstehung der Arten und Das Kapital . Er fragte sich, wie es Kenjiro gelungen war, sie zu erwerben, wo er doch so wenig Geld hatte. Vermutlich hatte er seinen letzten Mon gespart, um ihn für Bücher auszugeben, oder vielleicht hatten sie ihm die Barbaren geschenkt, für die er dolmetschte.
Er lächelte in sich hinein. Kenjiro war das beste Beispiel für das Sprichwort »Begabte Männer neigen zur Krankheit, schöne Frauen sind dazu bestimmt, jung zu sterben«. Ständig von dem einen oder anderen Leiden geplagt, verbrachte Kenjiro seine Zeit mit Lernen und hatte mit der Hilfe eines befreundeten Samurai aus Aizu gut genug Englisch gelernt, um als Dolmetscher tätig zu sein. Er hatte für zwei ausländische Techniker gearbeitet, die in den Provinzen ein Telegrafensystem installierten, und war nach Tokyo gekommen, als der Auftrag beendet war. Doch, wie sie alle festgestellt hatten, gab es hier nur wenig Möglichkeiten für jemanden aus dem Norden, selbst wenn er so gescheit war wie Kenjiro.
Nobu schenkte ihm einen Becher Wasser ein und fand ein kleines, mit Reishülsen gefülltes Kissen für ihn. Kenjiro setzte sich auf. Ein bisschen Leben schien in ihn zurückzukehren. »Comment vont les études?« , fragte er in unbeholfenem Französisch.
Nobu grinste. »Keine Zeit für études mit dem Kampfhund auf meinen Fersen.«
Kenjiro gluckste. »Ah, Mori, der bissige Tosa-Hund. Na, du wirst ja bald wieder in der Militärakademie sein.«
Nobu nickte und verzog das Gesicht. »Yasu ist nicht da?«
»Muss hinausgeschlüpft sein, während ich schlief.« Kenjiro beugte sich vor und packte Nobus Handgelenk. »Weißt du was? Gestern war Tanabata – der siebte Tag des siebten Monats. Ich musste die Tage an den Fingern abzählen. Dieser neue Kalender ist nur ein Trick, damit wir unsere Feste vergessen, unser chinesisches Wissen, alles. Der alte Kalender hat uns mit unseren Wurzeln verbunden, der neue stößt uns kopfüber in die Zukunft. Sie sagen, wir müssten die Vergangenheit aufgeben und vorwärtsschreiten, aber sie irren sich. Das Alte ist Teil dessen, was wir sind. Übrigens, ich habe meinen Künstlernamen ausgewählt: Wanderer des Östlichen Meeres, wie der Rinderhirte, der die Brücke aus Elsternschwingen überquert.«
»Erst mal musst du gesund werden, bevor du mit dem Wandern beginnst«, sagte Nobu. »Was ist mit den Muscheln passiert?«
Bei seinem letzten Besuch war Nobu zum Fluss hinuntergegangen, hinter einem der vor Kurzem fertiggestellten Regierungsgebäude aus Stein und Ziegeln, und hatte ein paar Muscheln ausgegraben, die angeblich ein hervorragendes Mittel gegen Gelbsucht sein sollten. Er hatte sie gekocht, wie seine Mutter es früher getan hatte, mit einer Handvoll Asche, damit sich die Muscheln von den Schalen lösten, und sie dann in Sojasoße und einem Schuss süßem Mirin-Kochwein ziehen lassen. Außerdem hatte er Bohnen gekocht und für Kenjiro in Bambusblätter gewickelt. Etwas davon war noch in einem Topf unter einem Bord übrig. Er löffelte es in eine Schale und reichte sie Kenjiro.
Gerade war er dabei, Jubei zu erklären, wie man die Muscheln fand und kochte, als die Tür quietschend aufgeschoben wurde und Yasutaro hereinkam, den Kopf unter dem Türsturz geduckt.
» Usss . Du auch hier, Jüngerer Bruder?«
Er wirkte müde, und sein Humpeln war ausgeprägter, als hätte er einen langen Weg hinter sich. Er hatte sich nie völlig von dem Beinschuss aus den Kämpfen vor acht Jahren erholt.
Nobu musterte Yasus Gesicht. Er wusste noch, wie grau und ausgezehrt sein Bruder an dem Tag ausgesehen hatte, als Jubei und andere junge Soldaten ihn auf einer Trage ins Haus ihres Onkels gebracht hatten. Yasu hatte keinen Ton von sich gegeben, obwohl Nobu sehen konnte, dass das Bein in einem merkwürdigen Winkel abstand und Blut durch die Verbände sickerte. Nobu war damals zehn gewesen. Er hatte draußen gespielt und war so aufgeregt gewesen, seinen Bruder zu sehen, dass er ums Haus gerannt war und gerufen hatte, Yasu sei zurück. Yasu
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