Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
Röcken der Geishas gegrapscht hatten.
Auf der anderen Seite einer weiteren Brücke war der Himmel von Gaslaternen erleuchtet. Selbst um diese Zeit drängten sich Menschenmengen auf der Ginza und bestaunten die protzigen Stein- und Ziegelgebäude. Nobu kam am Schild vor der Schwarzen Päonie vorbei und wandte sich abrupt ab bei der Erinnerung an jenen schicksalhaften Tag, als er dort hineingestürmt und Taka und ihrer Familie begegnet war. Sie gehörten in diese grell beleuchtete neue Welt, doch ihm war sie verschlossen, und er wollte kein Teil davon sein.
Als er Moris Haus erreichte, war er schweißüberströmt. Der Mond stand hoch am Himmel. Nobu war stundenlang fort gewesen. »Du Narr!«, murmelte er erneut. Mori würde wütend sein, ihn vielleicht sogar entlassen, und Nobu brauchte das Geld doch so dringend, um seine Brüder zu unterstützen.
Er schob die Tür auf, und ihm schlug ein Schwall abgestandener Luft entgegen, feucht und voller Schweißgeruch. Bunkichis Schnarchen dröhnte wie eine Tempelglocke. Nobu schlich sich auf Zehenspitzen hinein und stolperte über einen großen Körper. Der Mann grunzte und kam hoch.
Selbst im Dunkeln erkannte Nobu ihn – Jubei, der ehemalige Diener seines Bruders Yasutaro, ein raubeiniger Riese, der in seinem Dorf ein gefeierter Sumo-Ringer gewesen war. Yasutaro hatte ihn schon vor Langem entlassen – heutzutage konnte er sich nicht mal mehr einen einzigen Diener leisten –, aber Jubei kam immer wieder vorbei, um nach ihm und nach Kenjiro zu sehen.
»Usss« , grunzte Jubei. Nobu packte ihn am Ärmel und zog ihn auf die Straße. Die raue, nördliche Begrüßung zu hören, tat gut, doch Jubeis Anblick erfüllte Nobu mit Sorge. Irgendwas musste mit einem seiner Brüder passiert sein, und Jubei war gekommen, um ihn zu holen, aber er war nicht da gewesen. Er hatte sich zu sehr durch sein törichtes Abenteuer mit diesem Mädchen ablenken lassen.
»Ihr Bruder Kenjiro.« Jubei runzelte seine fleischige Stirn. »Scheint ihm nicht gut zu gehen. Meister Yasu ist nicht da, deshalb hab ich nach Ihnen gesucht, Herr.«
Nobu verzog das Gesicht. Er würde Mori um mehr freie Zeit bitten müssen. Seine einzige Hoffnung war, dass Shige, Moris Mätresse, sich für ihn einsetzen würde. Rasch pinselte er eine Nachricht an sie und versprach, bis Mittag zurück zu sein.
Sie gönnten sich ein paar Stunden Schlaf und machten sich vor Morgengrauen auf den Weg, entlang des äußeren Burggrabens. Die Verschanzungen waren abgerissen worden, zurückgeblieben war ein offenes Gelände mit verstreuten Bäumen und Mauerbruchstücken. Die Außenmauern der Burg, nun sichtbar über das leere Gelände hinweg, ragten trostlos vor dem Himmel auf.
»Jeden Tag verschwindet ein bisschen mehr.« Jubei schüttelte den großen Kopf. Es stimmte. Die hohen Mauern entlang der Straßen, die Residenzen mit dem Gitterwerk vor den Fenstern, aus denen Frauen herauszulugen pflegten, die Wachhäuser, die Unterkünfte für die Samurai-Wächter, alles war verschwunden. Das neue Regime war erpicht darauf, alles abzureißen, was Nobu gekannt oder wertgeschätzt hatte.
Nobus Brüder bewohnten ein gemietetes Haus in einem heruntergekommenen Viertel nahe des Tors an der Kanda-Brücke. Früher musste es zu den Unterkünften gehört haben, in denen die Samurai wohnten, auf dem Grundstück des Palastes eines Daimyo, aber die lackierten Tore und die prächtige Residenz waren während des Bürgerkriegs zerstört oder kurz danach abgerissen worden. Ein widerlicher Gestank von Holzasche, Kloake und verfaulten Nahrungsmitteln drang Nobu in die Nase. Als sie sich den Weg durch den Schutt bahnten, entdeckte Nobu den großen Eisentopf, den er für seine Brüder gekauft hatte, unter dem Dachgesims auf einem Haufen Steine und Dachziegel.
Nach dem Aufschieben der Tür wäre er fast über Kenjiro gefallen, der zusammengekrümmt auf einem dünnen Futon in der Mitte des Raumes lag. Der süße, modrige Geruch von Krankheit hing in der Luft. Yasu war nirgends zu sehen.
Nobu ging in die Hocke und legte Kenjiro die Hand auf die Stirn. Die Augen seines Bruders waren gelblich, seine Haut klamm vor Schweiß. Mit rasselndem Atem starrte er zu Nobu hoch.
»Usss« , krächzte er. »Der Jüngere Bruder hier, und zu dieser Tageszeit? Du wirst deine Arbeit verlieren, wenn du nicht aufpasst.« Er versuchte sich aufzusetzen, sackte zurück und stöhnte verärgert. »Ich muss auch wieder an die Arbeit.«
»Ich hol dir etwas zu trinken.« Nobu schaute sich
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