Die Tochter des Schmieds
Mutter Gül und Melike gesagt hatte, daß sie bald ein neues Geschwisterchen
bekommen würden, kam Recep zu spät zur Schule. In der Zeit, die er sich verspätete, hätte man fünfzigmal die Nationalhymne
singen können. Die Schule war fast schon aus. Es wäre schlauer von ihm gewesen, gar nicht aufzutauchen. Wenn man nicht kam,
dann bekam man auch keine Schläge. Man konnte am nächsten Tag immer noch erzählen, daß man den Eltern helfen mußte.
Doch Recep klopfte, öffnete die Tür, stellte sich direkt vor den Lehrer und streckte einfach beide Hände aus. Und der Lehrer
ließ sich nicht lange bitten.
Danach quetschte Recep sich in die Bank, in der Gül saß, und flüsterte ihr zu:
– Dein Vater hat Streit mit Tufan, es wird einen Kampf auf dem Dorfplatz geben. Dein Vater ist stark, aber Tufan hat mehr
Leute.
|41| Gül wurde ganz aufgeregt, ihr war heiß, und sie hatte das Gefühl, nicht mehr auf ihrem Platz sitzen bleiben zu können, doch
sie rührte sich nicht. Ihr Vater würde sich schlagen.
– Warum haben sie Streit? fragte sie Recep flüsternd.
– Weiß ich nicht. Kommst du gleich mit?
– Ja, sagte Gül, sie hatte noch nie einen Kampf zwischen Erwachsenen gesehen.
Bis zum Schulschluß hätte man die Nationalhymne für wenigstens ein Jahr auf Vorrat singen können, so lang kam Gül die Zeit
vor. Es wurde geflüstert und getratscht, die Nachricht verbreitete sich, und als der Lehrer die Schule für beendet erklärte,
strömten die Schüler noch schneller als sonst aus dem Klassenraum und rannten atemlos Richtung Dorfplatz. Jeder wollte einen
guten Platz ergattern.
– Komm mit, vom Platz werden sie uns fortjagen, sagte Recep.
Sie kletterten über eine Leiter auf das Dach eines Hauses, von dem man den Dorfplatz gut überblicken konnte. Dort unten standen
sich zwei Gruppen von Männern im Abstand eines Steinwurfs gegenüber. Gül erkannte ihren Vater sofort in der kleineren Gruppe.
Die Männer schrien und beschimpften sich gegenseitig, der Schmied hatte zwar nicht die lauteste Stimme, aber er überragte
alle und stand mit erhobenem Kopf da, die Schultern leicht zurückgenommen, die Brust vorgewölbt, er schien keine Angst zu
haben.
Die Männer lasen Steine vom Boden auf und schmissen sie in die Gruppe der Gegner, mal warf jemand aus Tufans Gruppe, und die
andere wich etwas zurück, mal warfen Timurs Leute, und Tufans Freunde hoben die Arme schützend vors Gesicht und gingen einige
Schritte rückwärts. Einer von Timurs Kumpanen war an der Augenbraue getroffen worden, und die linke Seite seines Gesichts
und sein Hals waren voller Blut, doch er schrie am lautesten von allen. Auf der anderen Seite erhob sogar der nasenlose Abdul
seine quäkende Stimme, um ein paar Flüche auszustoßen. Die Kinder hatten fast alle Angst vor diesem Mann, dem sein Bruder
die Nase |42| weggeschossen hatte, als beide noch junge Burschen waren. Sie hatten mit dem Gewehr ihres Vaters gespielt, das sie ungeladen
geglaubt hatten. Abdul verließ nur sehr selten das Dorf, um sich nicht den Blicken fremder Menschen ausgeliefert zu fühlen.
Doch innerhalb des Dorfes hatten sich wenigstens die Erwachsenen schon längst an sein vernarbtes Gesicht gewöhnt, in dem das
Nasenbein kurz unter den Augenbrauen abrupt endete.
– Ehrloses Tier, schrie Abdul, und Tufan brüllte hinterher: Betrüger, Drecksschwein.
Timur löste sich aus seiner Gruppe und ging auf die anderen zu. Er hatte Glück, ein paar Steine verfehlten ihn, einer traf
ihn nur an der Schulter. Als er gut zehn Schritte vor seinen Leuten stand, hörten die anderen auf, Steine zu werfen.
– Was ist, Tufan, du Sohn eines Ochsen, wenn du ein Mann bist, dann tritt hervor und kämpfe wie einer. Und wirf nicht mit
Steinen wie eine Frau.
– Falls du es noch nicht weißt: Hier vertreibt man die Hunde, indem man mit Steinen nach ihnen schmeißt, schrie Tufan zurück.
Und was bist du schon, außer ein lästiger Hund? Was hast du zu suchen in unserem Dorf?
– Ein guter Hund beißt nicht in seinem eigenen Dorf, sagte Timur. Und jetzt komm und schlag dich wie ein Mann.
Am liebsten hätte Gül laut gerufen, am liebsten hätte sie irgend etwas getan, damit sie sich alle wieder vertrugen, aber sie
saß auf dem Dach und hielt die Luft an wie alle anderen Kinder, die sich mittlerweile auf dem Dach eingefunden hatten, weil
man sie vom Dorfplatz verjagt hatte. Das eine oder andere Kind erkannte seinen Vater in der einen oder anderen
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