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Die Tochter des Schmieds

Die Tochter des Schmieds

Titel: Die Tochter des Schmieds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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einem mit dem Lineal auf die Handflächen schlug, wenn man nicht artig war. Die Jungen
     bekamen auch Schläge auf den Hinterkopf oder Ohrfeigen, doch als Mädchen brauchte man davor keine Angst zu haben. Zweimal
     nur bekam Gül in ihrem ersten Schuljahr Schläge mit dem Lineal.
    Recep, der einzige blonde Junge im Dorf, war schon im vierten Schuljahr und berüchtigt für seine Streiche und für den Ärger,
     den er anzetteln konnte. Eines Tages flitschte er Papierkügelchen durchs Klassenzimmer. Als der Lehrer ihn erwischte, bekam
     er Backpfeifen, daß seine Wangen am nächsten Morgen noch rot waren. Doch schon am übernächsten Tag flitschte er wieder und
     traf den Lehrer in den Nacken. Der sagte, ohne sich umzudrehen:
    – Recep.
    – Ich wars, sagte Gül, sie wußte gar nicht, warum ihr das rausgerutscht war. Recep war nicht mal ihr Freund. Er war der Sohn
     einer guten Freundin ihrer Mutter, und es hieß, er könne sich nicht benehmen, weil ihm der Vater fehlte, der eines Tages angeblich
     nach Istanbul gegangen und nie wiedergekommen war.
    Der Lehrer drehte sich um und sah Gül einige Sekunden lang an. Er wußte, daß sie es nicht gewesen war, aber er rief sie nach
     vorne und ließ sie die linke Hand ausstrecken, mit der Handfläche nach oben. Er mußte seine Autorität wahren. Alle hielten
     die Luft an, und das klatschende Geräusch war für Gül fast schlimmer als der Schmerz. Als Gül sich wieder setzte, wußte sie,
     daß ihre Mutter davon erfahren würde. Sie würde bestimmt böse mit ihr sein, weil sie unartig gewesen war. Gül stiegen die
     Tränen in die Augen.
    |39| – Es tut nicht mehr weh, oder? fragte Recep nach der Schule.
    – Nein, murmelte Gül und sah kurz vom Boden hoch in seine graublauen Augen.
    – Hier.
    Recep holte aus seiner Tasche Aprikosenkerne hervor und drückte sie Gül in die Hand.
    – Bis morgen, sagte er noch, drehte sich um und ging.
    Zu Hause schlug Gül die Aprikosenkerne mit einem Stein auf und aß das nussige Innere, ohne Melike zu fragen, ob sie auch etwas
     wolle.
    Nach dem zweiten Schlag mit dem Lineal weinte Gül nicht. Man durfte nicht zu spät kommen, auch als Mädchen nicht. Und wenn
     man Montag morgens, wenn die Nationalhymne gesungen wurde, zu spät kam, dann gab es einen Schlag mit dem Lineal. An anderen
     Tagen konnte man hoffen, davonzukommen.
    Wenn Melike nachts schlecht träumte oder aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte, kam sie zu Gül ins Bett, kuschelte
     sich an und schlief bald wieder ein. Nachts im Halbschlaf mochte Gül es, den Körper ihrer Schwester neben sich zu spüren.
    Manchmal wachte Melike auch auf, weil sie ins Bett gemacht hatte. Sie wurde bald vier, aber sie machte immer noch regelmäßig
     ins Bett. Die Decke war klamm, die Matratze war feucht und kalt und stank, und Melike stand auf und legte sich einfach zu
     Gül ins Warme.
    Auch in jener Nacht, bevor Gül den zweiten Schlag bekam, wachte Melike auf, weil sie schlecht geträumt hatte, und sie legte
     sich zu Gül. Morgens lag sie wieder in ihrem eigenen Bett. Und als Gül von den Geräuschen in der Küche aufwachte, dachte sie,
     daß sie selbst ins Bett gemacht hätte. Der Schritt ihrer Schlafanzughose war naß, die Beine waren feucht, der kühle Fleck
     auf der Matratze war direkt unter ihr.
    Gül zog sich aus und überlegte, wo sie ihren Schlafanzug verstecken konnte. Sie wollte ihn heimlich trocknen, denn |40| sie war ein großes Mädchen, sie ging ja schon zur Schule, sie machte nicht mehr ins Bett. Zuerst verbarg sie ihre Schlafanzughose
     unter Melikes Bettzeug, und als sie zur Schule mußte, nahm sie die Hose mit, um sie im Stall zu verstecken.
    Doch als sie nun die Stalltür aufmachte und das Quietschen der Mäuse hörte und die Bewegungen im Heu mehr erahnte als sah,
     traute sie sich nicht hinein, in den dunklen Stall, in dem auch noch die Kühe und Pferde und der Esel waren. Der Stall im
     Sommerhaus war ihr weniger beängstigend vorgekommen.
    Und so stand Gül in ihrer Schuluniform am Tor. Die Schlafanzughose hatte sie schon aus dem Haus geschmuggelt, und sie konnte
     sie nicht zur Schule mitnehmen. Und woanders verstecken konnte sie sie auch nicht, weil sie dann möglicherweise jemand geklaut
     hätte. Es dauerte lange, es dauerte sehr lange, bis Gül genug Mut gesammelt hatte, um in den Stall zu gehen und die Hose im
     Heu zu verstecken. Es dauerte ungefähr so lange wie die Nationalhymne.
     
    Einige Wochen später, genauer gesagt nach jenem Tag, als ihre

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