Die Tochter des Schmieds
ist Tag und Nacht bei ihr. Sie glaubt nicht, daß es Typhus ist, auch der Arzt hat gesagt, daß es nur ein normales Fieber
sein könnte. Vier Tage lang hat Sibel immer wieder Fieberkrämpfe, während Hülya Wasser und Blut schwitzt. Timur hingegen scheint
erloschen zu sein. Er geht nicht arbeiten, sitzt den ganzen Tag im Schneidersitz auf einem Kissen, trinkt Tee mit viel, viel
Zucker und raucht, raucht, bis man ihn fast nicht mehr sehen kann. Gül ist stets an seiner Seite.
Melike hat noch nicht verstanden, was passiert ist, sie spielt mit den Kindern auf der Straße und prahlt damit, daß die Seele
ihrer Mutter nun in Frieden ruht. Sie verlangt nicht nach Fatma, macht aber weiter jede Nacht ins Bett.
Nach vier Tagen sinkt Sibels Fieber. Als Timur erfährt, daß |65| sie es anscheinend überstanden hat, steht er morgens auf und will zur Arbeit gehen. Gül weint und klammert sich wie ein Kleinkind
an sein Bein.
– Keine Angst, sagt Timur, keine Angst, ich komme heute abend wieder. Versprochen.
– Versprochen?
– Versprochen.
Und nun sitzt er vor der Schmiede, alle naselang kommt jemand anders, der ihm sein Beileid aussprechen und ihn hinterher ein
wenig ablenken will. Er bestellt allen Tee und ist froh, daß er heute noch nicht arbeiten muß. Er fühlt sich kaum in der Lage,
einen Hammer zu heben.
Abends ruft er Gül und Melike zu sich und sagt:
– In ein paar Tagen gehen wir zurück ins Dorf. Wir sind alle wieder gesund, Gül muß in die Schule, Tante Hülya wird mitkommen
und auf euch aufpassen. Und bald … bald … werdet ihr eine Mutter haben.
Er sagt nicht Mütterchen oder eine neue Mutter oder Stiefmutter, er sagt: Bald werdet ihr eine Mutter haben.
Es ist so ähnlich wie mit dem Löffel, den Timur gegen die Wand geschleudert hat. Erst in dem Moment, in dem sie es von ihrem
Vater hört, glaubt Gül es wirklich. Sie werden eine Mutter bekommen, sie ist ganz aufgeregt und neugierig. Sie sieht Melike
an, die nicht so recht zu wissen scheint, was sie mit dieser Information anfangen soll. Timur lächelt, steht auf. Gül folgt
ihm bis vor das Klo.
Als sie den ersten Tag wieder in der Schule ist, merkt Gül, wie die anderen Kinder sie verstohlen ansehen, doch in der Pause
kommt niemand, um neugierige Fragen zu stellen. Nur Recep nähert sich ihr.
– Der Allmächtige gebe den Hinterbliebenen Kraft, sagt er, so wie er es von den Erwachsenen gelernt hat.
– Amen, sagt Gül.
– Dein Vater war zu lange weg, sagt Recep, Tufan hat das ganze Dorf gegen ihn aufgebracht.
|66| Gül macht sich keine Sorgen, sie spürt, daß alle erst mal nett sein werden zu ihrem Vater. Sie selber ist froh, wieder auf
dem Dorf zu sein, mit Recep zu reden und nicht mehr so oft ihre Großmutter sehen zu müssen, die so bestimmt ist und kalt.
Im Dorf lacht sie niemand wegen ihres Dialekts aus, und Tante Hülya spielt jeden Abend mit ihr und Melike. Ihre Tante kocht,
wäscht, putzt, spült, doch Gül möchte Sibel selber die Flasche geben, sie möchte Melike ausziehen und waschen und ihr die
Brote schmieren. Und Hülya läßt sie, ein trauriges Lächeln auf den Lippen, aber aufmunternde Worte im Mund:
– Du bist ein fleißiges Mädchen, bravo, meine Süße, du bist ein Schatz.
Keinen Tag vergißt Hülya, den Mädchen zu erzählen, daß sie bald eine neue Mutter bekommen werden und daß sie sich darauf freuen
können. Sie näht den Schwestern für diesen festlichen Tag Kleider aus einem blauen Stoff mit weißen Blumen.
Zweiundfünfzig Tage sind seit Fatmas Tod vergangen, als Timur in die Stadt reitet, heiratet, aber allein zurückkehrt. Arzu
soll am nächsten Tag mit ihrer Aussteuer auf dem Lastwagen nachfolgen.
Der nächste Tag ist ein Sonntag, und Tante Hülya hat den Kindern ihre neuen Kleider angezogen. Sie sitzen zu Hause und warten
ungeduldig, als Recep angerannt kommt.
– Sie sind unten an der Straße, man kann sie schon sehen.
Wenn man den Laster auf der Serpentine sieht, die zum Dorf führt, kann es nicht mehr lange dauern. Gül nimmt Sibel auf den
Arm und läuft Melike hinterher, zur Leiter, die am Stall lehnt. Melike ist schon oben, weil Gül mit Sibel auf dem Arm nicht
so schnell laufen kann. Gül läßt Sibel am Fuß der Leiter zu Boden und klettert hoch, bis sie neben Melike auf der obersten
Sprosse der Leiter steht. Von dort hat man den besten Blick, und sie will ihre Mutter unbedingt als erste sehen. Oder zumindest
nicht nach Melike.
– Du mußt
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