Die Tochter des Schmieds
in Istanbul ist, wirft im Dorf jemand in der Dunkelheit einen Stein gegen ein Fenster seines Hauses. Arzu glaubt,
Tufan fortlaufen gesehen zu haben. Sie kennt sich aus mit den Gebräuchen und Gewohnheiten der Dorfbewohner, sie ist kein Stadtkind
wie Fatma. Sie ist überhaupt nicht wie Fatma, und sie ist längst gereizt von den jungen Mädchen, die auf sie zukommen und
fragen, ob sie auch Märchen erzählen kann. Sie kennt sich aus mit den Bräuchen. Es geht nicht um die Scheibe, die zu Bruch
gegangen ist. Die Botschaft lautet: Ich habe ein Auge auf deine Frau geworfen. Du solltest sie nicht allein lassen, sonst
wirst du bald als gehörnter Ehemann dastehen.
Erst will sie keiner und jetzt einer zuviel. Arzu hat nichts getan, sie hat ihm nicht in die Augen gesehen oder ihn auf eine
andere Weise ermutigt. Wenn die Kinder abends endlich schlafen und ihr Mann weit weg in der großen Stadt ist, sitzt Arzu manchmal
da, dreht die Flamme der Petroleumlampe |72| ganz klein und weint still vor sich hin und bittet den Herrn, ihr Kraft für einen weiteren Tag zu geben.
Sie hat auf dem Dorf niemanden, mit dem sie darüber reden könnte, also versucht sie, es Gül zu erklären. Die versteht nicht
alles, aber mal wieder genug, um Angst zu haben, genug, um zu wissen, daß es sich nicht um eine Sache zwischen Tufan und ihrem
Vater handelt, sondern zwischen der Familie und den Dorfbewohnern. Sie hat Angst, daß jemand, der sich an ihren Vater nicht
rantraut, ihr irgendwo auflauern könnte. Beim Spielen entfernt sie sich kaum mehr vom Haus, und nach der Schule geht sie ziemlich
schnell heim, anstatt mit Recep rumzutrödeln.
Bald werden sie alle zusammen ins Sommerhaus ziehen. Auch Arzu sehnt diese Zeit herbei, damit sie ihre Eltern wieder regelmäßig
sehen kann. Doch als Timur dann zurück ist und sie tatsächlich umziehen, verfliegt zumindest Güls Freude sehr schnell. Sie
hatte verdrängt, daß die Stadtkinder sich über ihre Aussprache lustig machen. Und sie hat nicht daran gedacht, daß sie nun
zu Hause niemanden mehr hat, mit dem sie spielen kann.
Es gibt kein Kitzeln und keine Raufereien, und es gibt keine Koseworte mehr, weder hier noch auf dem Dorf. Das ist es, was
Gül am meisten vermißt, die zärtlichen Worte ihrer Mutter, mein kleines Mädchen, mein Schatz, mein Lamm, mein Täubchen, Liebes,
Glanz meiner Augen, Freude meiner Seele.
Wenn Arzu zu ihren Eltern oder zu den Nachbarinnen geht, überläßt sie die älteren Kinder oft stundenlang sich selbst. Auch
als der Schmied eines Tages viel früher als erwartet heimkommt, ist Arzu mit Sibel bei einer Nachbarin, und Melike spielt
draußen, während Gül sich zu Hause allein langweilt. Timurs Schnurrbart sieht dunkel und verklebt aus, und er flucht lange
und laut vor sich hin, bevor er seiner Ältesten erzählt, was passiert ist.
– Ich mußte ins Dorf, sagt er, ich hatte einiges zu erledigen, habe ein paar Bauern Gemüse abgekauft und habe ihnen erzählt, |73| daß ich noch zur Mühle muß. Ich bin zur Mühle geritten, schön langsam, weil ich den Esel so bepackt hatte. Tufan hatte sich
hinter der Tür der Mühle versteckt, mit einer Schaufel in der Hand. Er wollte mir mit der Schaufel ins Gesicht schlagen, doch
der Herr hat mich beschützt, die Schaufel selbst ist weggeflogen, er hat mich nur mit dem Stiel erwischt. Genau auf der Nase.
Mir sind die Tränen aus den Augen gestürzt. Hätte er die Schaufel bei einem anständigen Schmied machen lassen, wäre ihm das
nicht passiert. Ich war zu überrascht, um ihm eine Abreibung zu verpassen. Verstehst du, du machst die Tür auf, und als nächstes
hast du einen dicken Holzstock auf der Nase. Er hat den Stiel fallen gelassen und ist fortgelaufen, er ist um sein Leben gerannt,
der kleine, dreckige Feigling. Und mir hat die Nase geblutet, aus beiden Löchern.
In den folgenden Jahren wird Timur diese Geschichte noch oft erzählen, aber er wird sie schon zwei Wochen später damit beenden,
daß er sagt: Ich müßte diesen Mann noch mal aufsuchen und ihm meinen Dank aussprechen. Seitdem mir die Nase so geblutet hat,
haben meine Augen nicht mehr geschmerzt. Der Druck ist verschwunden, ich bin diesem Mann dankbar, ehrlich.
An diesem Tag jedoch ist er zornig und sinnt auf Rache.
– Ich werde ihm die Knochen aus dem Leib prügeln, sagt erabends zu seiner Frau, doch die wartet, bis er sich ein wenig beruhigt
hat, und sagt dann vorsichtig, sehr vorsichtig:
– Wir müssen doch
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