Die Tochter des Schmieds
deinem Vater noch einen Löffel, sagte Zeliha zu Gül, und Gül lief los.
Auf dem Weg in die Küche mußte sie an der Eingangstür vorbei und erkannte die Stimme ihrer Tante dahinter. Hülya schien sich
mit einer Nachbarin zu unterhalten. Gleich würde |57| das Gespräch beendet sein, und sie würde den schweren Türklopfer hören. Gül blieb stehen, um zu lauschen.
– Ich weiß nicht, ob es besser ist, sie zuerst heimbringen zu lassen, oder ob sie direkt vom Krankenhaus …
– Der Herr gebe euch Kraft, sagte die Nachbarin, der Herr gebe euch Kraft. Was soll nur aus den armen Kindern werden, jetzt,
wo ihre Mutter tot ist?
Gül lief ganz schnell in die Küche, nahm einen Löffel und lief dann zurück ins Zimmer, im Vorbeilaufen hörte sie, wie ihre
Tante weinte. Sie gab ihrem Vater den Löffel, und im gleichen Moment hörte sie den Türklopfer. Gül sagte:
– Mama ist tot.
Einen winzigen Moment verharrte Timur regungslos, dann schleuderte er den Löffel, den er in der Hand hielt, mit voller Wucht
gegen die Wand. Es bröckelte ein wenig Putz ab.
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|58| II
Gül sieht, wie ihr Vater den Löffel wirft, sie hört den Aufprall, sie sieht nicht, wie der Putz von der Wand bröckelt. Erst
in diesem Moment wird ihr klar, daß etwas passiert ist. Erst als sie sieht, wie ihr Vater reagiert, bekommt sie eine Ahnung,
was die Worte bedeuten, die sie gerade gesagt hat. Der Satz der Nachbarin konnte ihre Welt nicht verändern, aber der Schmied
und der Löffel können es. Gül läuft in das Zimmer, in dem Melike geschlafen hat, und schließt die Tür hinter sich ab.
Die Tränen sind ihr wohl schon vorher übers Gesicht gelaufen, doch erst jetzt weint sie laut. Möglicherweise kennt sie es
aus Erzählungen und ahmt es nach, vielleicht kommt es auch einfach aus ihr heraus, daß sie klagt und die Sätze hinausweint.
Mama, du bist gar nicht tot, oder? Du spielst doch nur? Mama, du wirst doch wiederkommen? Mama, laß mich nicht allein. Mama,
wir werden doch wieder zusammen Brot backen, ich habe so gerne mit dir Brot gebacken. Mama, du spielst nur, oder? Mama, bitte
geh nicht weg. Mama.
Mama, bitte bleib.
Mama.
Die Klinke wird heruntergedrückt, und Zeliha sagt:
– Gül, Liebes, mach die Tür auf, ja?
Doch Gül denkt nicht daran, sie hat sich auf das ungemachte Bett gelegt, die Beine angezogen und hält das Kopfkissen umarmt.
Den Geruch und die Feuchtigkeit nimmt sie gar nicht wahr. Und sie bekommt auch nur am Rande ihrer Tränen mit, daß nun reihum
alle an die Tür klopfen und versuchen, beruhigend auf sie einzureden. Gül liegt da und |59| weint. Sie wird nicht aufmachen, sie wird in diesem Zimmer bleiben, bis ihre Mutter wiederkommt.
Sie weiß nicht, wie lange sie schon im Zimmer ist, als sich schließlich jemand am Fensterrahmen zu schaffen macht. Kurz darauf
schlängelt sich ein Junge durch das kleine Fenster. Im allerersten Moment glaubt sie, daß es Recep ist, und hört auf zu weinen.
Doch es ist einer der Nachbarjungen aus dem Sommerhaus, einer der sie ausgelacht hatte, weil sie einen Dorfdialekt hat. Gül
dreht ihm den Rücken zu und weint weiter, während er die Tür aufschließt. Sie weint immer noch, als ihre Großmutter sie schließlich
auf den Arm nimmt und aus dem Zimmer trägt.
Erst als sie ihren Vater sieht, hört sie auf.
Er weint.
Gül hat ihren Vater noch nie weinen sehen.
Der Schmied sitzt immer noch dort, wo er vorhin den Löffel entgegengenommen hat, starrt auf den Boden und weint ganz leise,
man kann ihn kaum hören. Er sitzt im Schneidersitz, starrt auf den Boden, und die Geräusche der Tränen, die von seinem Kinn
auf das Tuch tropfen, sind lauter als er selbst.
Menschen laufen hin und her, Gül weiß nicht, wo Melike und Sibel sind, sie sieht Tante Hülya und Onkel Yücel, sie sieht Nachbarn
und auch Menschen, die sie noch nie vorher gesehen hat. Sie hat aufgehört zu weinen und denkt: Ich muß ein großes Mädchen
sein, ich muß auf Melike und Sibel achtgeben.
– Wo sind meine Geschwister? fragt sie Tante Hülya.
– Die sind bei den Nachbarn. Gleich fahren wir wieder zu uns, in Ordnung?
– Kommt Papa auch mit?
– Nein, der bleibt noch hier.
Tante Hülya spricht ruhig, doch ihre Augen sind rot und geschwollen.
– Ich will, daß Papa mitkommt.
|60| – Er wird später nachkommen, sagt Hülya, wir fahren jetzt mit der Kutsche zu uns, dort mache ich Melike und dir Brote mit
Butter und Zucker, ja?
Viele Menschen kommen ins Haus,
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