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Die Tochter des Schmieds

Die Tochter des Schmieds

Titel: Die Tochter des Schmieds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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runter und Sibel holen, sagt sie.
    |67| – Nein, du gehst.
    – Ich bin älter, du mußt tun, was ich sage.
    – Ich geh nicht, soll sie unten bleiben.
    – Sie ist unsere Schwester.
    – Ist mir egal. Ich geh nicht. Du gehst.
    Sie zanken sich noch eine Weile, ohne sich gegenseitig anzusehen. Ihr Blick ist stur auf die Straße gerichtet.
    – Du holst sie.
    – Nein, du. Wenn du sie hochträgst, trag ich sie auch wieder runter.
    Dann könnte Melike die Mutter zuerst sehen.
    – Wir gehen beide.
    Gül hält Melike am Arm fest und will sie mit runterziehen, doch die wehrt sich. Sibel sitzt ganz still auf dem Boden und sieht
     zu ihren Schwestern hoch. Gül umarmt Melike jetzt und versucht so, wenigstens eine Sprosse auf der Leiter runterzuklettern.
     Aber Melike zappelt derart, daß sie das Gleichgewicht verlieren. Gül läßt los, doch es ist schon zu spät, beide fallen auf
     den Boden, direkt vor Sibel. Melike packt Gül an den Haaren und zieht daran, Gül faßt Melike am Handgelenk, um das Ziehen
     zu mildern, und versucht gleichzeitig, mit der anderen Hand Sibel aus dem Weg zu schieben. Melike will in die Hand beißen,
     die Sibel fortschieben will, Sibel fängt an zu weinen, Gül hält kurz inne, wird noch heftiger an den Haaren gezogen, schreit
     laut auf, Melike kreischt, um sie zu übertönen. Da hören sie eine vorsichtige Stimme:
    – Kinder, seid lieb, Kinder, streitet euch nicht.
    Eine junge Frau mit fülligen Wangen, die sie freundlich aussehen lassen, steht direkt vor ihnen. Gül und Melike blicken auf.
     Gül hat eine Schramme von Melikes Fingernagel auf der Stirn, Melike hat sich das Knie aufgeschlagen, und erst später werden
     sie merken, daß beide aufgeschrammte Ellenbogen haben.
    So lernt Arzu die Kinder kennen. Sie sieht drei Mädchen auf dem Boden, von denen sich zwei gerade gebalgt haben, und dem dritten
     läuft der Rotz aus der Nase.
    |68| – Herr, gib mir Kraft, murmelt sie.
    Die Frau sieht ihrer Mutter gar nicht ähnlich, aber Gül fragt trotzdem vorsichtig:
    – Mutter?
    – Ja.
    Gül steht auf, bewegt sich aber nicht auf die Frau zu und sagt auch kein Wort. Melike erhebt sich ebenfalls, geht zu der Frau
     und schmiegt sich an ihr Bein. Das hat Gül nun davon.
     
    Timur ist wieder bei Kräften, doch in letzter Zeit verspürt er ständig einen Druck auf den Augen. Er möchte nicht zum Arzt
     damit, er vertraut Ärzten nicht. Sie haben seine Frau sterben lassen, und wahrscheinlich kommt der Schmerz seiner Augen sowieso
     nur vom vielen Weinen. Soviel wie in den letzten Wochen hat er noch nie geweint in seinem Leben.
    Er stellt fest, daß die Dorfbewohner sich zieren, ihm ihre Waren zu verkaufen, einige handeln lieber mit Tufan, obwohl der
     einen niedrigeren Preis zahlt. Timur ist überzeugt, daß das nicht lange so sein wird, auf Dauer folgen die Menschen dem Ruf
     des Geldes. Er hat einfach nur zu lange den Handel schleifen lassen, weil er andere Sorgen hatte.
    Sie wollten die Kinder zu Verwandten nach Istanbul schicken, zumindest Gül und Sibel. Nur Melike wollte der Großonkel nicht,
     weil er wußte, daß sie schwierig ist. Nein, hat Timur gesagt, das sind meine Töchter, solange ich in der Lage bin, werde ich
     für sie dasein. Und nun hat er diese Frau geheiratet. Sie ist nicht so schön wie ein Stück vom Mond, aber alle sagen, sie
     sei fleißig und habe ein reines Herz. Das letzte Mal, als seine Mutter ihm eine Frau ausgesucht hat, hat sie eine gute Wahl
     getroffen. Wer sollte schon besser für ihn entscheiden können als seine Mutter, die ihn gesäugt und großgezogen hat. Und was
     wäre ihm auch übriggeblieben, wie hätte er ohne Frau seine Töchter behalten sollen.
    Arzu ist nicht schön wie ein Stück vom Mond, aber sie ist auch nicht häßlich. Sie ist tatsächlich fleißig, sie kümmert sich
     um die Kinder, sie kann kochen, was macht es da, daß sie |69| nicht weben kann oder will, daß sie keine Teppiche haben werden, um sie zu verkaufen. Timur bekommt einen guten Preis für
     den Webstuhl.
     
    Ihre neue Mutter ist gerade mal vierzehn Tage da, als Gül krank wird. Sie liegt schwitzend mit Fieber im Bett, und wenn sie
     die Augen öffnet, hat sie das Gefühl, daß die Deckenbalken sich auf sie herabsenken, um sie zu erdrücken. Wenn sie die Augen
     schließt, wird das Gefühl nur stärker.
    Manchmal verschwindet das Gefühl aber auch, dann hört Gül ihren Schwestern zu oder ihrer Mutter beim Kochen. Sie weiß immer
     genau, wo im Raum sich Melike und Sibel befinden,

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