Die Tochter des Schmieds
bleiben kurz und gehen dann wieder, unbekannte Gesichter, aber alle sehen Gül mit einem traurigen,
mitleidigen Blick an, und Gül hört immer wieder die gleichen Wortfetzen aus ihren Mündern: arme Kinder, der Herr gebe den
Hinterbliebenen Kraft, Halbwaisen. Und sie hört auch die geflüsterten Worte: Istanbul, Onkel, Sibel, Gül.
Tante Hülya bringt die Kinder zu sich nach Hause, es gibt Brote mit Butter und Zucker. Gül ißt ihres, während Melike das Brot
schief hält und versucht, den Zucker auf den Boden rieseln zu lassen. Sehr bald kommen Ameisen, die Melike mit ihrem Fuß zertritt.
Schließlich klebt sie ihr Brot, als niemand hinsieht, an die Wand.
Bei Anbruch der Dunkelheit ist ihr Vater noch nicht da, und sooft Gül nach ihm fragt, bekommt sie zu hören, daß Timur kommen
wird, sobald Gül eine Nacht geschlafen hat.
Gül kann nicht einschlafen. Kurz bevor sie in den Schlaf hinübergleitet, hört sie jedesmal das Geräusch des Löffels an der
Wand, sie sieht das Gesicht ihres Vaters vor sich, und sie versteht etwas und versteht es nicht.
Ihre Mutter wird nicht mehr wiederkommen.
Es sei denn, sie wünscht es sich ganz, ganz fest. So fest, wie sie nur kann. Das wird ihre Mutter spüren, sie wird fühlen,
wie stark Gül sich nach ihr sehnt, wie unbezwingbar ihr Wille ist, und dann wird Fatma zurückkommen. Wenn Gül jetzt einschläft
und morgen aufwacht, wird ihre Mutter wieder da sein. Das wird sie ihr nicht antun, sie wird nicht einfach verschwinden. Wenn
sie jetzt die Bettdecke über den Kopf zieht und fehlerfrei bis hundert zählt, wird ihre Mutter morgen wieder da sein.
Als sie zu Ende gezählt hat, hört Gül zuerst, wie die Haustür aufgeht, und kurz darauf Onkel Yücels Stimme, ein Geflüster. |61| Vielleicht ist ihr Vater doch noch gekommen. Leise macht sie die Tür auf und nähert sich dem Zimmer, aus dem das Licht der
Petroleumlampe dringt. Die Tür steht einen Spaltbreit auf, und Gül sieht, daß Tante Hülya weint, während Onkel Yücel seine
Wasserpfeife vorbereitet und sagt:
– Er ist stur, aber ich glaube, es wäre das beste für die Kinder gewesen. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, sie bei sich
zu behalten, da können wir jetzt reden, bis wir keine Spucke mehr im Mund haben, er wird seine Entscheidung nicht rückgängig
machen. Wir hätten noch warten sollen mit dem Vorschlag, wir hätten ein, zwei Tage warten sollen.
Seufzend zündet Yücel die Wasserpfeife an, es blubbert, er nimmt einige kurze Züge, dann inhaliert er tief, damit seine Lungen
nach diesem schweren Tag ein Fest feiern können. Als er den Rauch ausstößt und sich zurücklehnt, erblickt er Gül.
– Was machst du denn da? Kannst du nicht schlafen, Kleines? fragt er, ohne sich zu bewegen, und Hülya, die mit dem Rücken
zu Gül gesessen hat, springt auf und sieht Gül an. Zumindest glaubt Gül, daß Hülya sie ansieht, aber so stark, wie ihre Tante
schielt, kann man sich nie ganz sicher sein.
– Komm, ich bring dich wieder ins Bett. Hast du schlecht geträumt? Komm, ich sing dir noch ein Schlaflied.
Gül läßt sich auf den Arm nehmen und ins Bett tragen. Die sanfte Stimme ihrer Tante begleitet sie in den Schlaf.
Zwei Tage später erst wird sie ihren Vater sehen. Zwei Tage später wird Fatma beerdigt. Sie haben die Leiche nicht mehr zu
Hause aufgebahrt, die Frau des Schmieds ist direkt aus dem Krankenhaus auf den Friedhof gekommen. Wie ein Mensch, der kein
Zuhause gehabt hat.
Doch zur Trauerfeier kommen viele Menschen, sie war beliebt, und keiner, der sie gekannt und von ihrem Tod gehört hat, ist
ferngeblieben. Es ist einer der längsten Leichenzüge, die die kleine Stadt je gesehen hat. Die Männer sind auf dem Friedhof,
während die Frauen sich bei Zeliha versammelt haben. Hülya hat Gül und Melike mitgebracht, Sibel hat sie bei |62| ihrem Mann gelassen, denn sie hat Fieber und schreit. Alle glauben, sie hätte sich auch angesteckt und müßte bald sterben.
Während sie mit Melike auf dem Boden spielt, hört Gül gleichzeitig zu, was Tante Hülya und ihre Großmutter miteinander besprechen.
– Er wird die Kinder nicht weggeben, sagt Zeliha. Ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll, ich habe mit Engelszungen auf
ihn eingeredet, stundenlang. Er hört nicht auf mich. Nur über meine Leiche wirst du diese Kinder behalten, habe ich gesagt,
aber er ist so ein Sturkopf, schlimmer als sein Vater. Ich habe mir etwas anderes überlegt. Kennst du Arzu, die
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