Die Tochter des Schmieds
sie sieht die einzelnen Handgriffe ihrer Mutter und sogar die Mimik vor
sich, doch sobald Gül die Augen öffnet, sind alle verschwunden, sie hat sich die Geräusche nur eingebildet.
Ganz schnell macht sie die Augen wieder zu, sie will wenigstens die Geräusche hören, doch sie hat erneut das Gefühl, als würden
die Deckenbalken sich auf sie herabsenken, sie erdrücken und zerquetschen. Sie schreit. Sie will nicht allein sein, sie will
nicht verschwinden unter den Balken. Immer wieder hört man unvermittelt ihren angsterfüllten Schrei.
Arzu setzt sich ans Bett und streicht über Güls Stirn. Und weint. Sie weint nicht um das kranke Kind. Sie weint um sich selbst.
Womit hat sie dieses Schicksal verdient? Was kann sie dafür, daß ihr erster Gemahl kein Mann war? Und ist es ihre Schuld,
daß sie danach keiner mehr haben wollte? Was tut sie hier? Sie ist gerade neunzehn Jahre alt und muß sich auf einmal um diese
drei Kinder kümmern. Drei Mädchen, die ihr völlig fremd sind, und ein Mann, der den Schmerz über den Tod seiner Frau noch
lange nicht verwunden hat. Arzus Tränen tropfen auf Güls Stirn, und Timur lächelt, weil er den Grund der Tränen nicht kennt,
und sagt beruhigend:
– Das ist kein Typhus. Was man als Arzt an einer Universität lernt, weiß ich nicht, aber das ist kein Typhus, das Kind hat
Fieber.
|70| Und sie reiben Güls Körper mit Alkohol ein, um das Fieber zu senken. Sie lassen einen Hodscha kommen, der betet, ihr Fieber
bespricht und außerdem Blutegel empfiehlt. Drei Stück sollen sie über dem Kreuzbein ansetzen, die würden das böse Blut aussaugen.
Vier Tage nachdem die Blutegel angesetzt worden sind, die ihre Mutter in einer Glasflasche mit heimgebracht hatte, ist Gül
wieder gesund. Doch sie hat noch drei Tage lang Fieberträume gehabt. Daran, daß die Balken sich auf sie senkten, war sie ja
fast schon gewöhnt. Schlimmer war, daß sie sich verloren fühlte und von riesigen Blutegeln träumte, die sich mit ihrem ganzen
Gewicht auf ihren Rücken legten, sie in den Nacken bissen, um sie danach mit Haut und Haaren zu verschlingen. Drei Tage hat
sie immer wieder
Mutter, Mutter
gewimmert und dabei oft Arzus Gesicht gesehen.
Als Gül wieder gesund ist, führt die Familie ein Dorfleben, das ganz normal aussieht. Gül geht zur Schule, Melike spielt auf
der Straße, zankt sich, Sibel ist im Haus bei ihrer Mutter, die Hausarbeiten erledigt oder sich mit Nachbarinnen auf einen
Plausch trifft. Der Schmied reitet in die Stadt und versucht seine Geschäfte wieder anzukurbeln, aber es scheint nicht richtig
zu klappen. Tufan hat die wildesten Gerüchte gestreut, die Leute sind mißtrauisch, sie glauben, Timur würde sie betrügen,
einige glauben sogar, er hätte ein Auto in der Stadt.
Ja, er ist reich, aber nicht so reich. Gerade mal ein Auto gibt es inzwischen in der Stadt. Und was für einen Sinn hätte es,
jeden Tag in der Schmiede zu schwitzen, wenn er so viel Geld hätte, daß er sich ein Auto leisten könnte?
Er würde diese Sache gern klären, von Mann zu Mann, aber Tufan ist eine Schlange, die sich im hohen Gras versteckt. Soll er
zu mir kommen, wenn er ein Problem hat, sagt Timur den Leuten, soll er es mir von Angesicht zu Angesicht sagen, wenn er glaubt,
ich würde euch bescheißen. Gott ist mein Zeuge, daß ich nur ehrlichen Handel betreibe. Soll der Hurensohn doch kommen, wenn
er etwas zu sagen hat.
|71| Noch nicht mal nachdem Timur ihn öffentlich beleidigt hat, fordert Tufan Genugtuung, so feige ist dieser Mann.
Doch das alles hält den Schmied nicht davon ab, in den ersten Frühsommertagen mit dem Geld, das er für den Webstuhl bekommen
hat, fast eine Woche nach Istanbul zu fahren. Wie immer ist er froh, als er im Zug sitzt. An nichts denken, trinken, rauchen,
den Tänzerinnen zuschauen und die Fußballer anfeuern, in kleinen Restaurants an Straßenecken an niedrigen Tischen auf Hockern
sitzen und Spieße essen, zwei, drei Portionen, in aller Ruhe. Er genießt es, hier und da ein Schwätzchen mit den Städtern
zu halten und nicht an Krankheit, Tod, Geburt und Hochzeit zu denken.
Nur der Druck auf seinen Augen läßt nicht nach und erinnert ihn daran, daß es gerade schwere Zeiten sind. Ganz besonders schlimm
ist es morgens beim Aufwachen und manchmal auch abends, doch in Istanbul ist er abends meistens betrunken genug, um den Schmerz
seiner Augen nicht zu spüren. Betrunken genug, um zu vergessen.
Während Timur
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