Die Tochter des Schmieds
nachts auf Friedhöfe zu gehen, und wir
lagen immer nebeneinander und haben uns die Sterne angesehen. Deine Mutter war schön wie ein Stück vom Mond. Und eines Nachts
hat sie einfach
Gül
gesagt. Ich wußte nicht, was los ist, und sie hat gesagt, sie sei schwanger, und unsere Tochter werde Gül heißen. Die Sterne
sind vor meinen Augen verschwommen.
– Ja, Fatma, fügt er nach einer Pause hinzu, was haben wir für Tage gehabt in den alten Zeiten.
Ich hätte hingehen sollen, denkt Gül, ich hätte damals im Krankenhaus an ihr Bett gehen sollen, wie Melike es getan hat. Ich
hätte nicht auf die Älteren hören sollen. Immer höre ich auf die Älteren, und Melike tut, was sie will. Sie hat unserer Mutter
noch einen letzten Kuß gegeben, ich nicht.
– Siehst du, Gül, sagt ihr Vater nun, siehst du, mein Mädchen, für die Vergangenheit gibt es keine Lösung. Was geschehen ist,
ist geschehen, wir können die Toten nicht zurückholen.
Gül denkt daran, was ihre Großmutter sagt, wenn sie eine besonders scharfe Peperoni erwischt hat:
– Die ist so scharf, daß ein Toter wach werden würde, wenn man ihn mit dieser Peperoni am Hintern kitzelt.
Aber nein, man kann die Toten nicht zurückholen, man kann ihnen nur ein Tuch um das Kinn binden.
– Das macht man, damit der Mund nicht offensteht, wenn die Leiche steif wird, erklärt Timur seiner Tochter. Das werdet ihr
bei mir auch machen. Das ist der Weg, den wir alle gehen.
Gül sagt nichts. Der Schmied wird noch über vierzig Jahre leben, und wenn er stirbt, wird Gül nicht an seinem Bett sitzen
wie seine anderen Kinder, sie wird in Deutschland sein, in einem Krankenhaus, nach einer Augenoperation, und Timurs letztes
Wort wird
Gül
sein.
Als Vater und Tochter heimkommen, ist Güls Großvater, der Kutscher Faruk, mit seinem Sohn Fuat da.
|196| – Wo seid ihr nur geblieben? schimpft Arzu und schickt Gül gleich in die Küche, Kaffee kochen für den Besuch. Kurz darauf
kommt sie nach und sagt:
– Was ist passiert? Die alte Hatice ist gestorben? Warst du dabei? Muazzez Hanım hat ihren Sohn verflucht? Erzähl.
Gül erzählt, während ihre Mutter nervös in der Küche auf und ab geht. Als der Kaffee fertig ist, sagt sie, obwohl Gül noch
bei ihrer Erzählung ist:
– Jetzt geh rein, und servier den Kaffee.
Gül merkt, wie Onkel Fuat sie unverwandt ansieht, doch sie blickt fast nur zu Boden. Trotzdem ist sie überrascht, als ihr
Vater spätabends noch mal mit ihr auf den Hof gehen möchte.
– Glaubst du, Onkel Fuat könnte ein Mann für dich sein?
Deshalb der Kaffee, deshalb war ihr Großvater dabei, deshalb hat Fuat sie so angestarrt, deshalb konnte ihre Mutter ihre Neugier
bezähmen. Jetzt erst versteht sie.
– Nein, sagt sie. Nein, ich glaube nicht.
– Warum? hört sie die Stimme ihrer Mutter, die an der Schwelle der Hintertür steht und gelauscht haben muß.
Die Leute reden über ihn, er hat schlechte Angewohnheiten, sagen sie, er raucht, trinkt, spielt.
– Warum denn nicht? fragt ihre Mutter nochmals. Er ist doch ein gutaussehender, junger Mann, und einen Beruf hat er auch,
er ist imstande, eine Familie zu ernähren.
Ja, Onkel Fuat sieht tatsächlich gut aus. Und er kann wahrscheinlich wirklich eine Familie ernähren. Aber die Leute sagen
auch, er sei mit Engin befreundet, der im Gefängnis Socken gemacht hat.
– Was hast du gegen ihn? fragt ihre Mutter.
– Er tritt immer hinten auf seine Schuhe, sagt Gül.
– Was? fragt ihr Vater.
– Er tritt immer hinten auf seine Schuhe, ich mag keine Männer, die hinten auf ihre Schuhe treten.
– In Ordnung, sagt ihr Vater bedächtig, wie du möchtest.
– Aber, setzt ihre Mutter an, doch Timur unterbricht sie:
|197| – Wie sie will.
In dieser Nacht träumt Gül, sie würde im Bett liegen und sich nicht bewegen können. Die Decke senkt sich auf sie herab, und
plötzlich ist da Fuat mit seinem Clark-Gable-Schnurrbart, an den Füßen hat er Gefängnissocken, und in der Brusttasche seines
kurzärmeligen Hemdes stecken ein marmorierter Kamm, eine Friseurschere und ein Rasiermesser.
– So steht es im Buch geschrieben, hört Gül Muazzez Hanıms Stimme. Dann ist es eben ihr Schicksal.
Gül schreckt aus dem Schlaf, trinkt einen Schluck Wasser und wälzt sich bis zum Morgengrauen im Bett herum. Sie muß an die
offenen Augen der toten Frau denken. Wenn die Decke sich wirklich auf sie herabsenkte, würde sie die Augen öffnen oder sie
lieber geschlossen halten?
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