Die Tochter des Schmieds
bricht die Scheibe einfach weg, und dann ist das Geschrei groß,
und immer ist der Glaser schuld. Dabei kommt es auf die Türen an. Wer hat diese hier gemacht?
– Der Schmied Timur.
– Dann wird es keine Probleme geben, sagt der Glaser und steckt seinen Zollstock und seinen Bleistift wieder ein.
Als er fast schon wieder in der Stadt ist, fällt dem Glaser ein, daß er den Zettel mit den Maßen im Haus vergessen hat. Eine
halbe Stunde später steht er an Tür des ehemaligen Lehrers und hört von drinnen ein Schreien, das sehr abrupt |200| aufhört, als er klopft. Er klopft nochmals und lauscht. Nichts zu hören. Er greift durch das Loch in der Tür, in das die Scheibe
eingesetzt werden soll, und öffnet sie von innen.
– Herr Lehrer, ruft er und hört einen kurzen Schrei, der sofort wieder erstickt wird. Es hört sich nach einer Mädchenstimme
an, und sie kommt aus dem Zimmer zu seiner Rechten. Ohne lange zu überlegen, macht der Glaser die Tür auf. Abdurahman hat
eine Hand auf Yıldız’ Mund gepreßt, mit der anderen versucht er, sich die Hosen hochzuziehen.
Solche Neuigkeiten verbreiten sich schnell, und Arzu weiß es, wie fast immer, als eine der ersten.
– Was ist passiert? fragt Gül, die die Aufregung bemerkt, aber nicht weiß, was ihre Mutter gerade mit Tante Hülya getuschelt
hat.
– Onkel Abdurahman hat unanständige Dinge mit Yıldız gemacht, sagt Tante Hülya.
– Das ist nichts für Kinder, sagt ihre Mutter. Geh und kümmere dich um deinen Kram.
Dann wendet sich Arzu wieder an ihre Schwägerin:
– Er hat beim heiligen Buch geschworen, daß es das erste Mal war … Du bist ja immer noch hier, sagt sie zu Gül, die sich abwendet
und in den Garten geht, zu dem Aprikosenbaum, unter dem sie diesen Sommer oft sitzt.
Onkel Abdurahman ist immer gut zu ihr gewesen. Sie sieht seinen dichten grauen Bart vor sich, hört seine warme Stimme, denkt
an all die Süßigkeiten.
Manchmal ist es leichter, gewisse Dinge nicht zu wissen. Manchmal ist es einfacher, einen Menschen nicht wirklich zu kennen.
Yıldız wird zurück ins Dorf zu ihren Eltern gebracht werden. Daß sie noch Jungfrau ist, wird den Vater aus zwei Gründen erleichtern.
Erstens sinken ihre Heiratschancen nicht, zweitens zwingt es ihn nicht zum Handeln. Was hätte er tun sollen, einen angesehenen
Lehrer erschießen?
Abdurahman wird einen Sommer lang jeden Abend eine |201| Flasche Rakı trinken, kaum aus dem Haus gehen, und im Herbst wird er verschwinden, angeblich nach Istanbul. Nach dem anfänglichen
Klatsch und Tratsch werden die meisten Menschen über dieses Geschehnis schweigen.
Manchmal ist es besser, nicht zu wissen, aber Gül wird auch nie erfahren, ob es wirklich das erste Mal war. Wem kann man trauen.
Vom Frühling bis zum Spätsommer kommt mehrere Male das große Wasser, wie man sagt, und nie ist es Gül eingefallen, zu fragen,
woher es denn genau kommt. Es wird aus Quellen in der Hochebene zu den Gärten bei den Sommerhäusern geleitet. Man bewässert
die Apfelbäume, das Gemüse, die Beete, man läßt die Erde satt werden und leitet dann das Wasser durch Gräben weiter in den
nächsten Garten. Oder man leitet es durch ein Loch in der Mauer, das eigens dafür ausgespart wurde, über die Straße zu den
gegenüberliegenden Gärten. Es werden einige Säcke mit Sand aufgestapelt, und schon steht die Straße in ihrer gesamten Breite
nahezu knietief unter Wasser. Die Kinder spielen darin, kühlen sich ab, lassen Papierboote untergehen, spritzen sich gegenseitig
naß.
Gül weiß weder, woher das Wasser kommt, noch, wie der erste davon erfährt und was wohl der letzte damit macht, wenn zuviel
übrig ist, oder wie er reagiert, wenn er leer ausgeht. Sie weiß, daß das große Wasser für alle Kinder ein großes Abenteuer
ist.
Dieses Mal kommt das große Wasser einige Tage nachdem die alte Frau gestorben ist. Wenn er nicht auf eine gute Ernte angewiesen
wäre, könnte Timur das Wasser ungenutzt vorbeifließen lassen, doch so stehen er und Gül am nächsten Abend mit Sandsäcken,
Spaten und Lumpen zum Abdichten im Garten und warten. Während sie zusammen in der Dunkelheit sitzen, würde der Schmied am
liebsten eine Zigarette rauchen. Dieses Verlangen hat ihn immer noch nicht verlassen. Gül ist aufgeregt, sie steht auf und
rupft etwas Unkraut aus.
– Spar dir deine Kräfte, sagt ihr Vater.
|202| Es ist das erste Mal, daß sie ihm hilft, das Wasser umzuleiten. In der Regel geht
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