Die Tochter des Schmieds
Seite bewegt, um Platz zu machen, aber einige unverständliche
Worte murmelt.
Als er nach fünf Minuten wieder herauskommt, sind Cems Augen gerötet, doch man sieht keine Tränenspuren auf seinen Wangen.
– Was sollen wir tun? fragt er mit kraftloser Stimme.
– Du mußt sie in die Stadt bringen, sagt Handan. Hier kann sie nicht bleiben.
– Nein, das geht nicht, mischt sich eine der Frauen ein, man kann keine Toten am Friedhof vorbeitragen.
|193| – Das stimmt, bestätigt eine andere Frau. Sie ist tot, sie kann nicht den Friedhof passieren.
– Aber wo soll sie denn hin? Dann müßte sie ja hier liegenbleiben. Die Ratten werden sie nachts anfressen.
– Und wo soll sie gewaschen werden? ertönt eine weitere Stimme.
– Aber es geht nicht, nicht am Friedhof vorbei, das hat es noch nie gegeben, das geht einfach nicht.
Cem blickt einfach nur zu Boden, auf Muazzez Hanıms Kippe, aus jedem Mund kommt eine Stimme. Der Taxifahrer wartet in seinem
Taxi und raucht eine Zigarette. Schnatternde Frauen, mag er denken, reden soviel, daß nicht mal eine Linse in ihrem Mund naß
werden würde.
– Dann steht es in ihrem Buch eben so geschrieben, sagt Muazzez Hanım, und alle verstummen, als die alte Frau die Stimme erhebt.
Dann ist es eben ihr Schicksal, daß ihr letzter Weg am Friedhof vorbeiführt und nicht zum Friedhof hin. Tragt sie ins Auto
… Autos, gab es früher Autos? murmelt sie noch, stützt sich auf ihren Stock, steht auf und wendet sich an Cem:
– Drei Kinder hat sie großgezogen, weißt du, was das heißt? Weißt du, was diese Frau für euch getan hat? Sie hat nicht gegessen,
damit ihr nicht hungert, sie hat nicht getrunken, damit es euch nicht dürstet, sie hätte ihr Leben gegeben für ihre Kinder.
Und ihr? Ihr habt euch nicht einmal umgedreht und Mutter zu ihr gesagt. Ihr habt euch nicht umgeblickt, nachdem sie euch auf
den Weg gebracht hat. Ihr Unseligen habt sie nicht geehrt und nicht geschätzt. Der Barmherzige möge niemandem solche Kinder
wie euch schenken. Verflucht sollt ihr sein. Der Herr soll euch auch Kinder geben, die sich nicht um euch kümmern, wenn ihr
alt und gebrechlich werdet. Was hatte die arme Frau hier alleine zu tun? Nicht einmal, nicht ein einziges Mal habt ihr euch
umgedreht und sie wie eine Mutter betrachtet. Unseliges Pack, du und deine Geschwister.
Muazzez Hanım spuckt aus, humpelt die Stufen hinunter, stützt sich auf ihren Stock und geht mit gebeugtem Rücken |194| die Straße hinab. In Cems Gesicht ist nicht die geringste Veränderung zu erkennen. Es sieht immer noch aus wie eine Maske,
die jemand mit steifen Fingern aus weißem Kerzenwachs geformt hat.
– Seine Mutter ist gerade gestorben, flüstert Handan schließlich, und Gül sieht Muazzez Hanım hinterher. Schwere Worte. Was
weiß diese Frau, daß sie so redet?
Der Taxifahrer und eine der jungen Frauen legen die Leiche auf den Rücksitz. Jemand drückt Cem ein Glas Wasser in die Hand,
er führt das Glas zum Mund und schluckt. Gül glaubt erkennen zu können, wie sich der Adamsapfel nur mühsam hoch und runter
bewegt. Willenlos läßt Cem sich das leere Glas aus der Hand nehmen, Handan hält ihm die Beifahrertür auf, und er steigt ein.
Zurück bleiben ein paar Frauen, eine Staubwolke, die sich bald legt, und Gül, die sich fragt, ob sie auch allein sterben wird.
– Der Herr möge mich nicht lange liegen lassen, sagt ihre blinde Großmutter immer. Wenn es soweit ist, möchte ich höchstens
zwei Tage im Bett liegen und am dritten dahinscheiden. Der Herr gebe mir einen schnellen Tod, betet sie.
Aber was ist, wenn schnell auch einsam bedeutet. Was ist, wenn man nicht mal jemanden hat, den man Wasser holen schicken kann?
Herr, laß mich nicht allein sterben, betet Gül. Auf einmal möchte sie weinen, aber nicht vor all diesen fremden Frauen. Sie
geht zurück ins Sommerhaus, und während die Tränen laufen, putzt sie die Fenster, sie weint und arbeitet, und sie weiß nicht,
womit sie zuerst fertig sein wird.
Ihr Vater kommt am frühen Abend, um sie abzuholen. Als er erfährt, was passiert ist, sagt er:
– Laß uns auf dem Heimweg gemeinsam auf den Friedhof gehen.
Und so gehen Timur und Gül in der Abenddämmerung an Fatmas Grab. Allein traut sich Gül nicht auf den Friedhof, und ihr Vater
nimmt sie selten mit.
– Weißt du, sagt er, deine Mutter und ich, wir haben früher |195| auf Friedhöfen übernachtet, wenn wir unterwegs waren. Wegelagerer haben auch Angst,
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