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Die Tochter des Schmieds

Die Tochter des Schmieds

Titel: Die Tochter des Schmieds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Straße weiter wohnt und die Gül schon immer seltsam gefunden hat. Sie ist
     eine resolute Person, die trotz ihres gebeugten Rückens robust wirkt, eine, die ihre Stimme auch in Männergesellschaft erhebt
     und vor der alle Respekt haben, Respekt gepaart mit Angst. Muazzez, so heißt sie, aber alle nennen sie nur ehrfürchtig Muazzez
     Hanım. Muazzez Hanım hat so viele Falten in ihrem braungebrannten Gesicht, daß man sich gar nicht mehr traut, richtig hinzusehen.
     Die Augen sind etwas getrübt, im Mund hat sie noch einige Zähne, aber die Lippen scheinen verschwunden zu sein, und der Rest
     ihres Gesichtes wirkt auf Gül wie ein Durcheinander, eine Unordnung, bei der sie nicht durchblickt. Außerdem redet Muazzez
     Hanım oft mit sich selbst und bewegt beim Sprechen ihr Kinn hin und her, ihre Augenbrauen zucken auf und ab, ihr rechtes Lid
     flattert, und manchmal ist ihr Mund nur noch ein kreisrundes, dunkles Loch.
    – Der Herr schenke ihr Ruhe, sie hat es schwer gehabt, sagt Muazzez Hanım und wendet sich dann an Handan:
    – Find zwei Taschentücher, meine Schöne.
    Handan läuft los, und Gül steht mit Muazzez Hanım im Zimmer und weiß immer noch nicht, was sie tun soll.
    – Jaja, mein Mädchen, sagt Muazzez Hanım, ohne ihr das |191| Gesicht zuzuwenden. So geht es, einen Moment lebst du noch, im nächsten bist du tot. So ist das Leben. Null mal null und übrig
     bleibt null. Keiner weiß die Stunde, wann der Todesengel ihn besuchen kommt. Die arme Frau, sie hat es nicht leicht gehabt
     im Leben, drei Kinder ganz alleine großgezogen. Und dann stirbt sie, bevor sie den Hausputz fertig hat, in ihren alten Kleidern
     und schafft es nicht mal mehr, die Augen zu schließen. Ja, mein Mädchen, sieh nur hin. Eines Tages wirst auch du tot sein.
    Als Handan mit zwei Taschentüchern hereinkommt, ist Gül froh, daß sie nicht mehr mit Muazzez Hanım allein sein muß. Die alte
     Frau nimmt Handan die Taschentücher ab und sagt kopfschüttelnd:
    – Drei Kinder, und nur eines wohnt in der Nähe. Geh, hol ihren Sohn aus der Stadt. Und trink vorher ein Glas Wasser, du bist
     ganz blaß. Und du auch, mein Mädchen, sagt sie zu Gül. Trink auch ein Glas Wasser. Und hab keine Angst.
    Muazzez kniet sich stöhnend neben die Tote, faltete ein Taschentuch diagonal, legt die Mitte unter das Kinn der Toten und
     bindet die Enden über ihrem Kopf fest. Dann schließt sie der Frau die Augen und breitet das andere Taschentuch über ihr Gesicht.
    – Was ist? fragt sie Gül, die sich immer noch nicht bewegt hat. Was ist, willst du kein Wasser trinken? Geh. Handan ist fast
     schon zurück aus der Stadt.
    Gül geht an den Pumpbrunnen in der Küche und trinkt Wasser aus der hohlen Hand.
    – Ich bin draußen, hört sie Muazzez Hanım sagen, und jetzt muß sie allein durch das Zimmer, in dem die Tote liegt. Zuerst
     will sie ganz schnell durchlaufen, als würde sie durch einen Stall gehen müssen, doch dann bleibt sie bei der Toten stehen.
    Ihre Kinder sind schon erwachsen.
    Das ist nur ein kurzer Gedanke.
    Sie sieht gar nicht tot aus, sondern als würde sie schlafen.
    Ein anderer kurzer Gedanke.
    |192| Der Tod ist unsichtbar wie die Gefühle.
    Noch einer.
    Hat Mutter auch ein Tuch über das Gesicht bekommen? Damit man die Ränder unter ihren Augen nicht sieht?
    Gül geht langsam hinaus, wo Muazzez Hanım auf den Stufen vor der Tür sitzt und raucht.
    – Nicht einfach, nicht einfach, sagt Muazzez Hanım und stößt etwas Rauch aus. Drei Kinder, drei Kinder. Wer bist du, Kleine?
    – Die Tochter des Schmieds Timur.
    – Ja. Ja, die Frau deines Vaters hat es auch nicht leicht. Fünf Kinder und drei davon nicht mal ihre eigenen. Zudem noch eine
     Schwiegermutter, die jeden über den Tisch zieht, obwohl sie nichts mehr sehen kann. Ne, ne, man hat es nicht leicht in diesem
     Leben, mein Kind.
    Sie tritt ihre Zigarette aus und spuckt auf den Boden.
    Gül weiß nicht, wie es geschieht, aber die Nachricht verbreitet sich schnell, und schon bald stehen fast zehn Frauen vor dem
     Haus, erzählen Geschichten über die Tote und wünschen ihrer Seele Frieden. Während eine der Frauen gerade darüber lästert,
     daß Cem, der Sohn der Verstorbenen, sie höchstens mal an den Wochenenden besucht hat, wirbelt das einzige Taxi der Stadt den
     Staub der Straße auf.
    Alle verstummen. Handan scheint geweint zu haben, doch Cems Gesicht ist wie versteinert. Ohne die geringste Regung zu zeigen,
     geht er ins Haus, vorbei an Muazzez Hanım, die sich kaum zur

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