Die Tochter des Schmieds
ihm ein Nachbar zur Hand, doch die meisten
Nachbarn sind noch nicht ins Sommerhaus gezogen. Gül scheint Timur mittlerweile kräftig genug, und eigentlich sollte sogar
Melike diese Aufgabe übernehmen.
– Ich habe morgens Schule, hat sie gesagt, und Timur hat die Ausrede gelten lassen.
Als das Wasser da ist, gibt Timur Gül Anweisungen, und Gül mag es, dem Lichtkegel der Taschenlampe zu folgen, das Rauschen
des Wassers und die Stimme ihres Vaters zu hören.
Bring mir noch einen Kanister hierher. Hol den Sandsack. Gib mir die kleine Schaufel. Dichte hier ab. Leuchte hierher.
Die Sonne geht bereits auf, als sie das Wasser schließlich in den Garten des Nachbarn lenken. Gül hat gar nicht gemerkt, wie
die Zeit vergangen ist. Doch jetzt, da alles erledigt ist, fühlt sie sich mit einem Mal erschöpft. Sie ist nicht müde, sie
kann sich nicht vorstellen, sich jetzt ins Bett zu legen, doch sie fühlt sich entkräftet. Ihr Vater steckt ihr wortlos drei
Zweieinhalb-Lirascheine zu.
Sie sind zu Fuß gekommen und gehen zu Fuß heim, die Krämer haben nicht auf, selbst die Bäcker nicht, und vor den Schultoren
spielen keine Kinder. Es ist still in der Stadt, vollkommen still, bis auf ihre Schritte auf dem staubigen Boden. Als hätte
sich die Stille der Nacht in den Morgen hinübergerettet. Gül kommt es vor wie im Kino, wenn der Ton ausfällt, aber dort entsteht
schnell ein Gemurmel, das immer lauter wird. Sie hören einen Esel in einem Stall schreien, Timur holt seine Taschenuhr heraus
und schaut darauf.
– Vielleicht geht sie falsch, sagt er, aber er scheint es selber nicht zu glauben.
Schnell, schnell, bedeutet Arzu ihnen mit einer Handbewegung, als sie in ihre Straße einbiegen. Sie steht bereits in der Tür,
ihr Gesicht vor Angst oder Aufregung verzerrt.
– Hinein, hinein, sagt sie mit gedämpfter Stimmte, als Gül und Timur nur noch zehn Schritte entfernt sind.
|203| Ihr Vater hat seinen Schritt nicht beschleunigt, und Gül geht neben ihm her.
– Schnell, ruft Arzu jetzt, bevor sie euch sehen.
– Wer? fragt Timur, als er sich die Schuhe vor der Tür auszieht.
– Laß die Schuhe an, kommt herein, sagt Arzu aufgeregt.
– Was ist, Frau?
– Ausgehverbot, sagt Arzu, sie haben ein Ausgehverbot verhängt.
Sie schließt die Tür hinter den beiden. Die Schuhe stehen draußen.
– Wer?
– Die Soldaten. Niemand darf auf die Straße.
Melike kommt angelaufen:
– Ist das nicht toll? Die Schule fällt heute aus. Und morgen wahrscheinlich auch.
– Hau ab, herrscht ihr Vater sie an.
– Ein Putsch? fragt er, und seine Frau nickt.
Mit düsterer Miene setzt sich der Schmied vor das Radio. So wird man ihn in den nächsten Tagen oft sehen, am Radio sitzend,
die Stirn in Falten gelegt, hin und wieder den Kopf schüttelnd.
– Was ist mit der Demokratie, wird er vor sich hin murmeln.
Oder auch:
– Ehrlose Zuhälter.
Er hat sich immer mehr für Fußball als für Politik interessiert, doch er hat jahrelang die Demokratische Partei gewählt, und
jetzt hat das Militär die Macht an sich gerissen, mit der Begründung, daß die Demokratie in Gefahr wäre. Der Ministerpräsident
Menderes wird der Alleinherrschaft und der Korruption beschuldigt, doch der Schmied ist überzeugt, daß alle Macht vom Volke
ausgehen sollte, von Männern wie ihm. Obwohl der Putsch keine Auswirkungen auf den Alltag haben wird, wird der Schmied erst
besänftigt sein, wenn ein Jahr später nach einer Volksabstimmung eine neue Verfassung verabschiedet wird.
|204| Gül folgt ihrer Schwester ins Zimmer.
– Was ist passiert?
– Ich weiß es nicht. Aber ich muß nicht zur Schule. Mama sagt, die Soldaten bestimmen jetzt alles.
Gül nickt, als würde sie verstehen.
– Du willst doch nach der Mittelschule auf die Oberschule, oder?
– Ja, weißt du doch.
– Aber du magst die Schule nicht.
– Nicht besonders, aber das ist doch egal. Ich will einen Abschluß, ohne Abschluß hat man es schwer. Ich will hier weg.
Wieder nickt Gül. Sie weiß, daß Melike recht hat. Ohne Abschluß bleiben einem nicht viele Möglichkeiten.
Einige Tage später wird das Ausgehverbot aufgehoben, Melike geht lustlos, Sibel voller Vorfreude in die Schule. Timur öffnet
die Schmiede wieder, und Gül kauft sich mit dem Geld, das ihr Vater ihr gegeben hat, den nachtblauen Stoff. Sie näht sich
ein Kleid, das sie den ganzen Sommer über nicht tragen wird, das sie aber, wenn sie allein ist, immer wieder hervorholt,
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