Die Tochter des Schmieds
dem Diwan und trinken Wasser aus einem großen Blechbecher.
– Sie wollten dich als Braut, oder? fragt Melike.
– Ja, sagt Gül.
– Heiratest du jetzt? fragt Sibel.
– Nein, sagt Gül, nein, ich heirate noch nicht.
– Du bleibst noch bei uns?
– Ja. Und selbst wenn ich heirate, bleibe ich in der Nähe, meine Schöne, wir werden uns immer sehen können.
– Ich möchte nicht hierbleiben, sagt Melike.
– Was möchtest du denn? fragt Gül.
– Ich möchte weg, nach Istanbul oder nach Ankara. Da heißt es bestimmt nicht dauernd: Wir werden zum Gespött der Leute. Ich
will in die Stadt und schöne Kleider tragen und Nylonstrümpfe, ich will Volleyball spielen, ohne daß mir jemand sagt, daß
junge Frauen das nicht dürfen. Ich will Strom haben und fließendes Wasser. Was soll ich in so einem Kaff hier, das nicht größer
ist als der Hintern der dicken Ayşe?
– Ssst, sprich nicht so, sagt Gül, Gott sieht und hört alles.
– Ist mir egal, sagt Melike. Ist doch wirklich nur ein Kaff. Ich mache die Mittelschule zu Ende, und dann gehe ich auf die
staatliche Oberschule, wo sie Lehrer ausbilden.
– Wenn du darfst, sagt Gül.
– Wieso sollte ich nicht dürfen. Dann kann ich Geld verdienen.
Gül sieht zu Boden und deutet ein Nicken an.
– Dann kann ich auch Lehrerin werden, oder? fragt Sibel.
Sie könnte Kunst unterrichten.
– Ja, sicher, antwortet Gül. Du kannst auch Lehrerin werden. Aber komm erst mal auf die Mittelschule.
– Das schaffe ich.
Gül zweifelt keinen Moment daran, daß Sibel es schaffen wird. Bei Melike ist sie sich nicht ganz so sicher, die könnte bei
der Aufnahmeprüfung der Oberschule durchfallen. Vielleicht sollte ich heiraten, denkt sie.
|189| Es ist noch nicht richtig Frühling, doch es ist schon warm, es mögen die ersten Märztage sein, da wird Gül ins Sommerhaus
geschickt.
– Sag Esra Bescheid, daß du zwei Tage nicht kommen wirst, nimm dir den Besen und ein Staubtuch, und mach das Sommerhaus mal
blitzeblank, sagt Arzu. Wir werden dieses Jahr früher umziehen. Die ersten sind schon dort.
Was sie die ersten nennt, sind nicht sonderlich viele Menschen, in ihrer Straße gerade mal zwei, und Gül findet es beängstigend,
so allein zu sein. Drei Häuser weiter ist eine sehr kleine, alte Frau, die früh verwitwet ist. Die Jungen ärgern sie oft,
indem sie sie Zwergin rufen. Und ganz am anderen Ende der Straße erledigt eine junge Frau, Handan, ebenfalls gerade ihren
Frühlingsputz.
Es ist das erste Mal, daß Gül beim Reinemachen ganz allein ist, und sie fürchtet sich. Sie versucht so wenig Geräusche wie
möglich zu verursachen, weil sie sich so sicherer fühlt. Wenn sie laut ist, hat sie das Gefühl, sie würde etwas Wichtiges
überhören, wobei sie nicht mal sagen könnte, was das sein sollte. Was soll ein Einbrecher schon aus einem leeren Sommerhaus
mitnehmen. Was ein Mann möglicherweise will, wenn er eine junge Frau allein vorfindet, das weiß sie. Aber es sind ja Menschen
in der Nähe, sie könnte brüllen, was ihre Lungen hergeben. Könnte sie das wirklich, nachdem sie so lange nicht mal gewagt
hat, laut zu atmen?
– Herbei, hört sie ein lautes Rufen, herbei, schnell, lauft herbei, Hilfe.
Da schreit jemand aus Leibeskräften, aber gleichzeitig scheint die Stimme zu zittern, so wie Güls Stimme, wenn sie ihr selbst
fremd vorkommt. Gül läßt den Besen fallen und läuft los.
Als sie das Haus der alten Nachbarin betritt, sieht sie, wie Handan auf dem Boden kniet, die Hände erhoben hat und eine Totenklage
anstimmt. Gül hat davon gehört, daß Menschen bei Todesnachrichten in Zungen singen, doch sie hat es selber noch nie miterlebt.
Sie hat auch noch nie eine Tote gesehen. |190| Die alte Nachbarin scheint auf der Seife ausgerutscht und gestürzt zu sein. Mit offenen Augen liegt sie auf dem Rücken.
Handans Stimme verklingt langsam. Nach einer kurzen Pause sagt sie zu Gül, die unbeweglich neben ihr steht und auf den Körper
der alten Frau starrt:
– Sie ist tot. Der Herr schenke ihrer Seele Frieden.
– Amen, sagt Gül.
Dann stimmt Handan erneut eine Totenklage an. Gül steht daneben und weiß nicht, was sie tun soll. Sie kann ihre Augen nicht
von dem leeren Blick der Frau abwenden.
Als Handans Stimme leiser wird und schließlich verstummt, weiß Gül nicht, wieviel Zeit vergangen ist. Als nächstes hört sie
das Quietschen der Tür und dreht sich um.
Im Türrahmen steht eine sehr alte Frau, die eine
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