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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Mobiliar in einem Vorratsraum zusammengeschoben worden. Jane ging daran entlang, las die Aufschriften, bis sie das gesuchte Regal erreichte, und betätigte einen Schalter an der Seite. Ein verborgener Motor erwachte summend zum Leben. Langsam und unbeholfen schoben sich die anderen Regale von Jane weg, schlossen den vorhandenen Durchgang und schufen Platz für einen neuen, wo sie ihn haben wollte.
    Die Bücher waren allesamt alt und vergilbt. Einige wurden von einer Schnur oder durch Gummibänder zusammengehalten, die so alt waren, daß sie bei der Berührung brachen, jedoch nicht abfielen, weil sie sich im Laufe der Jahrzehnte mit den Bucheinbänden verschmolzen hatten. Die wertvolleren Bände wurden in zusammengefalteten säurefreien Pappkartons aufbewahrt, die sorgfältig mit Bändern umschnürt waren. Selbst diese jedoch verrotteten im Kern, blätterten ab, vermoderten unerbittlich wie alle anderen Bücher. Dieser Prozeß war so allgemein vorherrschend, daß Jane ihn riechen konnte, ein herbstlicher Schleier, der an den Regalen klebte wie Rauch von einem fernen Buschfeuer. Alle, ohne Ausnahme, starben nach und nach.
    Also war es in keinster Weise ein Akt der Gewalttätigkeit, daß Jane eine Rasierklinge benutzte, um den Sicherheitsstreifen vom Rücken eines bestimmten Bandes abzutrennen.

    Ihr Kontaktmann traf sie auf der Zentralebene der Aufzüge. Er trug eine schäbige braune lederne Fliegerjacke mit Aufnähern von der Brocéliande-Kampagne, alte Jeans und noch ältere Stiefel. »Puck Aleshire«, sagte er. »Du hast das Ding?«
    »In meiner Handtasche.«
    »Denn man los!«
    Wie sich herausstellte, war Puck das Vergleichsobjekt ihres alten Seminars ›Vergleichen und Spekulieren‹. Er hatte dunkle, schrecklich ernste Augen und blinzelte fast nicht. Um ihn zum Lächeln zu bringen, sagte Jane: »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du nackt neben einer Leiche gestanden.«
    Er sah sie an und sagte nichts.
    Schweigend stiegen sie zehn Stockwerke hinauf und schritten über einen Skywalk nach Hindfell, wo sie einen klapprigen öffentlichen Aufzug zur Straße hinunter nahmen. »Warum konnten wir nicht einfach zum untersten Stockwerk hinunter und durch unsere eigene Vorhalle hinausgehen?« wunderte sich Jane.
    »Das ist Crip-Territorium. Du hast wirklich keine Ahnung, wenn du nachts ein Crip-Revier durchqueren willst.«
    »Oh.«
    Hindfells Foyer war öde und leer. Die Schaufenster waren für die Nacht geleert worden, und ein einsamer Zwerg im Rot eines Portiers stand gähnend da und beachtete sie nicht, als sie das Foyer durchquerten. Ein Blatt Zeitungspapier breitete die Flügel aus und machte einen Satz zu Jane hin, als Puck die Tür öffnete, wurde jedoch von einem Seitenwind erwischt und flog gegen eine Mauer. Sie zog ihren Parka fester um sich.
    Sie betraten eine dunkle, furchteinflößende Leere. Die Lichter der Straßenlaternen mühten sich vergebens, den Boden zu erreichen. Der regenfeuchte Asphalt spiegelte verschwommen Neon wider. In der Luft hallte das Knurren unsichtbarer Behemoths und das häßliche gackernde Gelächter von Straßenecken-Gnomen in einer nahegelegenen Bar. Irgendwo schwang eine Tür auf, spuckte einen Fetzen Musik aus, schloß sich und verschluckte ihn wieder. Niemand war auf der Straße.
    Jane mußte sich beeilen, um mit Pucks langem Schritt mitzuhalten. »Du bist ziemlich grob«, bemerkte sie.
    »Und du bist ’n reiches Miststück.«
    »Was?«
    »Du hast gehört, was ich gesagt habe. Ich kenne solche wie dich. Ihr mit euren Spatzengehirnen und von oben bis unten wattierten Parkas! Ihr lacht doch solche wie mich aus, weil die Ärmel meiner Jacke an den Säumen klaffen und ich jede Arbeit annehmen muß, die mir über den Weg läuft. Nun, ich will dir mal was sagen. Es gibt schlimmere Art, Geld zu machen, als nackt neben einer Leiche zu stehen, wie du es so charmant ausgedrückt hast. Und alles Geld, das ich verdiene, geht für die Bezahlung meiner Ausbildung drauf, nicht weil ich mir ein bißchen zusätzlichen Feenstaub in die Nase schieben will.«
    »Ich hab niemals ...«
    »Sicher, bestimmt.« Pucks Ärger erlosch so rasch, wie er aufgeflammt war. Er zog den Kopf ein. »Vergiß, daß ich irgendwas gesagt habe. Geht mich sowieso nichts an.« Die Schilder über den Geschäften, an denen sie vorüberkamen - AMBROSIUS, GRANDFATHER TROUT, GNOMOLOGICA, THREE SILK SHOES - Strahlten hell, aber die Geschäfte selbst waren hinter ihren verschlossenen Sicherheitsgittern so dunkel wie

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