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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Ende. Breite Schnellstraßen liefen wie Fäden zu Städten, die wie eine vollkommene Miniatur angelegt waren, und jenseits davon waren Berge, Ozeane und Eis. Es sah genauso aus wie die Tableaus aus Gips und Flechten, die die Geomantik-Studenten im zweiten Semester jedes Jahr anfertigten, um Themen wie ›Elektrizität im Dienste der Industrie‹ oder ›Eine Allegorie zur Erleuchtung der Massen‹ zu illustrieren. »Sie ist rund!« rief sie. »Die Welt ist rund!«
    »Sie ist rund, weil sie nur eine Illusion ist. Die Welt existiert nicht - nicht in irgendeinem bedeutenden Sinn - und nimmt daher die Form der Veränderung an.« Jetzt drehte sich die Scheibe, drehte sich langsam, jedoch erkennbar, unter der wolkenverhangenen Schüssel des Himmels. »Dies ist die sichtbar gemachte Veränderung - was die Weisen das Rad nennen. Du siehst jetzt unsere Existenz, wie sie die Göttin selbst sieht.« Jane wurde allmählich schwindelig. Rasch lenkte sie den Blick vom Horizont weg. Trotzdem war ihr noch immer flau im Magen.
    Die Stimme der Lamia klang jetzt wild und unwirklich. »Ich war es, die das Rad durch meinen Stolz und meine Torheit in Bewegung gesetzt hat, und so wurde ich bestraft, dazu verdammt, daß meine Kinder auf zwei Beinen laufen sollten, dazu verdammt, daß mich meine Nachfahren schmähten und nicht mehr an mich glaubten, und die grausamste Strafe war, daß ich zur Unsterblichkeit verdammt war, so daß ich die Konsequenzen meiner Tat sehen konnte.« Die Länder drehten sich rascher. Jane stolperte, fing sich wieder. »Als eine Gnade, die nur etwas weniger grausam als die Strafe selbst war, wurde mir versprochen, daß mir eines Tages, wenn ich die letzte Spur meiner Existenz vernichtet hätte, ein Ende gewährt würde. Aber dieser Tag liegt noch weit, weit dahin.«
    Kreischende Winde erhoben sich von den wirbelnden Landen. »Inzwischen dreht sich das Rad. Die Niedrigen werden erhoben, und die Mächtigen werden erniedrigt. Die Besten werden unausweichlich besiegt, und der Abschaum steigt stets an die Spitze. Hier liegt die Quelle allen Schmerzes der Welt, im rastlosen Kreisen, in der steten Beschleunigung, die uns immer wieder dorthin dreht, woher wir gekommen sind, jedoch älter, verändert, von Narben bedeckt und voll des Jammers. Hätte ich nur die Identität des Flüsterers erkannt, ich hätte niemals auf ihn gehört. Das Rad wäre nicht in Bewegung gesetzt worden.«
    Jane drückte fest die Augen zusammen. In ihrem Kopf drehte sich etwas wie ein Mühlrad. Sie stolperte einen Schritt näher auf den Stein zu und sank in die Knie, damit sie nicht stürzte. »Wessen Stimme war es?« schrie sie. »Wer hat dich in Versuchung geführt?«
    »Wer wohl? Wer war es, die mich dafür bestrafte, daß ich auf sie gehört habe? Wer bestimmte, daß das Rad in Schwung gesetzt werden sollte, und wer entschied, daß die Schuld hierfür die meine wäre? Das war ein und dasselbe Wesen.«
    »Wer?«
    Die Stimme der Lamia wurde sehr ruhig.
    »Nun, die Göttin natürlich. Wer sonst würde so etwas wagen?«
    Jane streckte die Hand aus, um sich am Stein abzustützen. In dem Moment, da die Finger ihn berührten, hörte das Umherwirbeln auf. Ihre Benommenheit war verschwunden.
    Ruckartig öffnete sie die Augen und ließ den Blick über die Lamia wandern. An der vollkommenen Geometrie des Schwanzes entlang. An der leichten Schwellung und dem Bogen des Unterleibs vorüber. Vorüber an den korallenroten Ringen, die die Brustwarzen umgaben. In das Universum ihrer Augen, die schwarzen Löcher der Pupillen.
    Die Lamia lächelte. Es war ein warmes und selbstsicheres Lächeln, ein Lächeln, das aus dem Kern ihres Wesens brannte. »Du begehrst mich.«
    »Ja«, sagte Jane verwundert. Sie hatte sich nie zuvor vom eigenen Geschlecht besonders angezogen gefühlt. Jungen waren ihr stets interessanter erschienen. Aber an der Lamia war ein unwiderstehliches androgynes Etwas, als wäre sie alles, was Jane am männlichen ebenso wie am weiblichen Geschlecht attraktiv fand.
    »Dann küsse mich.«
    Die Lamia senkte den Mund zu Jane herab. Die feuchten Lippen teilten sich und zeigten eine rosafarbene Zunge. Während ihr das Herz flatterte wie ein Vogel zwischen zwei Händen, streckte sich Jane verlangend und hilflos ihr entgegen.
    »Hör auf damit, Schwachkopf!«
    Puck packte Jane an den Schultern und zog. Sie stolperte über eine Ottomane und fiel rücklings zu Boden.
    Die Lamia war wieder alt geworden, alt und widerwärtig. Ein Ausdruck milden Bedauerns

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