Die Tochter des stählernen Drachen
Höhlen. »Wir sind da.«
Ihr Ziel war ein Steingebäude mit Doppeldach und einer Terrakotta-Zierleiste. Es quetschte sich zwischen zwei Wolkenkratzer - einsamer Geist einer dahingegangenen Ära. Graffiti verschandelten das erste Stockwerk. Fünf leere Bierflaschen drängten sich im Schutz der Stufen zusammen. »Sie erwartet uns«, sagte Puck. Er klopfte.
Die Tür öffnete sich.
Sie betraten einen großen kalten dunklen Raum. Drei Innenwände waren herausgerissen worden. In dem schwachen Licht von der Straße erhaschte Jane einen Blick auf eine Backsteinmauer, Brandflecken, eine verrottende Matratze und einen Sandsteinblock, der doppelt so hoch war wie sie. Der Stein stand nicht weit entfernt von einem gekachelten Kamin.
Die Tür schloß sich und tauchte sie in Schwärze.
Jane war zusammengezuckt. In jäher Panik wurde ihr klar, daß sie nun ganz und gar von Pucks Gnade abhing. Hier konnte ihr alles zustoßen. Sie fragte sich, warum sie so dumm gewesen war, sich in eine solche Lange zu manövrieren.
»Gewöhnlich ist es nicht so schlimm«, brummte Puck. »Scheiße!« Er war mit der Stiefelspitze gegen eine Sodaflasche getreten, die klappernd davonrollte. »He, du alte Irre! Wir sind hier - schalt das verdammte Licht an!«
Die Lichtlosigkeit intensivierte die Gerüche: den moderigen Gestank und die Fäule von Matratzen und Tapeten, den Geruch verbrannten Holzes, und darunter lag ein durchdringender schlangenartiger Gestank. Konnten Schlangen in dieser Ruine leben? Jane hoffte verzweifelt, daß sie es nicht konnten.
»Einen Augenblick, bitte!«
Die ausdruckslose geschlechtslose Stimme kam aus dem Herzen der lebendigen Dunkelheit. Etwas klapperte metallisch, dann roch es nach Kerosin, und dann ertönte das Ratsch! , mit dem ein Schwefelhölzchen angerissen wurde. Licht flammte auf, blendete und wurde zu einer Laterne, die an einer dürren braunen Hand mitten in der Luft hing. Der Schatten des Sandsteins neigte sich zu ihnen hin und bog sich dann wieder weg.
»Ihr mögt euch jetzt unserer Gegenwart nähern.«
Hinter der Laterne - Jane mußte die Augen zusammenkneifen, um dort etwas zu sehen - schwebte der Geist eines Gesichts. Pergamenthaut spannte sich über einem fleischlosen Schädel. Es war die Maske eines alten Weibs. Eine hohe Stirn, schwere Lider, von Schatten umgeben. Äonen der Erschöpfung hatten sich in den Winkeln dieser Augen eingenistet. Sie trug einen schwarzen Rollkragen, so daß man den Oberkörper erahnen, jedoch nicht sehen konnte; vom Körper unterhalb der Taille sah Jane nichts. Ein lippenloser Mund fragte: »Wo ist es?«
Der Ausdruck, der sich auf diesem Gesicht ausbreitete, als Jane das Buch aus ihrer Handtasche holte, war ebenso mager und hungrig wie eine Kerzenflamme.
Sie streckte eine Hand aus.
Jane legte die Opfergabe hinein.
Die Kreatur hob das Buch an die Nase und schnüffelte. Sie blätterte darin, riß drei Seiten heraus und stopfte sie sich in den Mund. Sie kaute mürrisch. Beim Weiterblättern zögerte sie über einer anderen Seite, riß diese dann entschlossen heraus und aß sie gleichfalls. Schließlich riß sie eine Seite des Registers heraus. Nachdem sie alles hinuntergeschluckt hatte, gab sie Jane das Buch zurück. »Der Rest ist für mich uninteressant.« Die braune Hand verschwand und tauchte mit einem Umschlag wieder auf. »Hier ist dein Entgelt. Es wird wohl ausreichend sein.«
Jane stopfte den Umschlag ungeöffnet in ihre Handtasche. Sie zögerte und fragte dann: »Warum tun Sie das?«
»Diese Seiten enthalten einen Namen. Ein Name, von dem ich wünsche, er möge in Vergessenheit geraten.«
»Aber warum haben Sie sie gegessen?«
»Ich zerstöre meine Vergangenheit.«
»Aber warum?«
Mit einem trockenen Geraschel, wie Seide auf Marmor, trieb das Gesicht näher zu ihr heran. Der Mund stand in einer Parodie von Verzweiflung offen, er war angespannt in einer Entschlossenheit, die wahrhaftig zum Fürchten war. »Ich rieche Eisen, kaltes Eisen, schweres Schicksal und Verrat.« Ruckartig hielt sie Jane die Laterne vors Gesicht. »Du bist nicht eines meiner Kinder! Was tust du hier?«
Jane zitterte vor Angst.
Die Laterne wich zurück. »Es spielt keine Rolle. Setz dich an den Herd, und ich werde dir alles erzählen.«
Schatten sprangen umher, als sie die Laterne in den leeren Kamin schob. Aus dem Nirgendwo holte sie zwei kleine Stühle. »Verdammte Zeitverschwendung«, knurrte Puck, als er und Jane sich auf die ungemütlichen Stühle setzten. Eine kalte Brise
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