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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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obgleich sie mit Sicherheit noch niemals ein derartiges Gebäude gesehen haben konnte, war es ihr vertraut wie ein immer wiederkehrender Traum. Ein fensterloses Außengebäude stieß an das Haus. Es hatte jedoch eine Tür, die eine ganze Wand ausfüllte. Eine kurze Straße, ebenso breit wie die Tür, führte zu dem Gebäude. Auf dem Dach war etwas, das eine Fernsehantenne sein mußte, denn es fehlten die Abwehrflüche, die ein Blitzableiter hätte.
    Bezaubert folgte Jane langsam einem gewundenen Pfad zur Hintertür. Diese öffnete sich auf einen Stoß hin, und Jane betrat die Küche. Herzzerreißend vertraute Gerüche hüllten sie ein.
    Eine Frau war dort, und während ihr die Vernunft sagte, daß die Frau eine völlig Fremde sein mußte, hüpfte bei ihrem Anblick dennoch etwas glücklich in Jane hoch. Die Frau saß an einem einem Tisch mit Plastiktischtuch. Sie hielt verzweifelt den Kopf gesenkt. Neben dem einen Ellbogen standen eine Flasche Whiskey und ein halbvolles Glas. Neben dem anderen Ellbogen stand ein Aschenbecher.
    Jane trat auf Zehenspitzen ein, sie hatte Angst zu sprechen, doch sie mußte einfach näher treten. Die Frau - das lockige Haar war dunkel, halblang geschnitten - hörte sie nicht.
    Jane berührte sie am Ellbogen. »Mama?«
    Mit einem kleinen spitzen Schrei sah ihre Mutter auf.

14

    Monkey war in Janes geheimes Lager eingedrungen. Es befand sich in einem Pappkarton unter ihrem Bett, darüber lagen als Tarnung alte Strumpfhosen. Monkey hatte ihn herausgezogen, den Inhalt auf den Fußboden gekippt und darin herumgesucht. Wütend machte sich Jane daran, die Sachen aufzuheben. Da war das Buch, das sie für die Lamia gestohlen hatte. Sie hatte es eines baldigen Tags in die Bibliothek zurückbringen wollen. Weiterhin das Paket von Kreditkarten und Ausweisen, die sie aus Galiagantes Brieftasche geklaut hatte, die Pfeife, Haschisch und das Babyöl, das sie in Reserve hielt, bis sie Zeit und Abgeschiedenheit dafür hätte, sowie ein paar wertvolle Überbleibsel aus ihren Tagen mit Peter und Gwen. Nichts fehlte. Monkey hatte herumgeschnüffelt, um an Informationen zu kommen.
    Die Schachtel barg keine Geheimnisse für Monkey. Jane hielt ihre Sachen nicht deshalb versteckt, weil sie ihre Entdeckung befürchtete, sondern weil sie ihr viel bedeuteten und sie nicht wollte, daß jeder mit seinen schmutzigen Pfoten darin herumwühlte.
    Jedoch war Jane selbst in ihrem Ärger unwohl. Etwas war im Gang. Monkey plante Unheil. Jane wußte, wie die Gedanken ihrer Zimmergenossin arbeiteten - das hier war eine Botschaft.
    Auf dem Flur ertönte brüllendes Gelächter. Zu Ehren der Jahreszeit schmückten die anderen Habundianerinnen ihre Türen mit Kteis-Myrthenkränzen. Später würden sie den Kadaver eines Schweins in Stücke reißen und sein Blut auf alle Schwellen verspritzen. Jane würde sich ihnen nicht anschließen. Dieser Tage war ihre Stimmung zu düster für derartige harmlose Vergnügungen. Dunkelheit und Kälte hatten ihr die Klauen tief in den Geist gesenkt. Sie hatte noch nie einen Winter erlebt, der so lange gedauert hatte.
    Sie zog die Blende hinunter, warf die Kleider ab, schüttete sich Babyöl über den Körper und verschmierte es. Mit dem dritten Streichholz gelang es ihr, die Haschpfeife anzuzünden. Da sie so zerstreut war, brauchte sie fast eine Stunde, ehe sie sich woandershin transportieren konnte.

    »Erzähl mir was von dir selbst.« Jane holte ihre Mutter ein, die in der Abenddämmerung an einem Flußufer entlangging. Sie verschränkte verlegen die Hände hinter dem Rücken. Ihre Mutter schritt mit verschränkten Armen dahin. Keine hatte den Mut, der anderen die Hand entgegenzustrecken.
    »Nun ... ich bin Kosmetikerin. Frank und ich haben uns vor sieben Jahren endgültig getrennt. Jetzt lebe ich zumeist allein.« Sie lachte kurz. »Hört sich recht bescheiden an, wenn man es so ausdrückt, nicht wahr? Ich mach einige freiwillige Dienste im Krankenhaus.«
    »O Mama.« Sie sah auf die Steine hinab, die unter ihr vorbeistrichen, blickte auf die Reihen von Treibholz, zerbrochenen Fläschchen und Getränkebehältern aus Plastik, die die Grenze der leichten Flut am Oberlauf des Flusses markierten. So viel wollte sie ihre Mutter fragen: Wie war dir zumute, als ich verschwunden bin? Was ist deiner Ansicht nach geschehen? Hast du mich gesucht, und wo hast du mich gesucht, und wann hast du schließlich aufgegeben? Irgendwie jedoch war sie außerstande, eine dieser Fragen zu stellen. Sie schienen einfach

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