Die Tochter des stählernen Drachen
Wort ergriff, hatte er seine Wut gebändigt. Sein Tonfall war kühl und beiläufig. »Wie ist es eigentlich möglich, daß du so lange gelebt und soviel erfahren hast, ohne dich je zu fragen, wer Ursache deines Unglücks war?«
»Ich kenne meinen Feind, o ja. Bis hinab auf die Op-Codes kenne ich ihn.«
»Mich?« fragte der Drache spöttisch. »Ich bin allerhöchstens ein Symptom. Bin ich es gewesen, der die Welt erschaffen und dich mit hineingezogen hat? Bin ich es gewesen, der gesagt hat, daß du leben, lieben, verlieren, alt werden und sterben mußt? Der dir jede Freundschaft vergiftet und dich von jenen fortgetrieben hat, nach denen es dich am meisten verlangte? Der gesagt hat, daß du nur durch das Begehen von Fehlern lernen kannst und daß die Lektionen, die du gelernt hast, dir nichts einbringen? Das war nicht ich. Du bist in einem Netz gefangen, das von einer größeren Macht als mir gesponnen wurde.
Ich kenne deine Feindin, denn sie ist ebenso meine Feindin. Verglichen mit meinem Haß auf sie ist unsere Feindschaft wie eine Kerze, die man in die Sonne hält. Versteh mich richtig: Ich habe dich in der Hand, und es würde mir große Freude bereiten, mit dir zu spielen wie eine Katze mit einer gefangenen Maus. Dennoch sollst du dich frei bewegen, denn wir machen gemeinsame Sache. Du mußt ebenfalls alle kleinlicheren Gefühle beiseite schieben. Konzentriere dich auf deine wahre Feindin! Hasse sie mit all deiner Macht! Fürchte sie ebenso, wie ich sie fürchte!«
Jane hatte stets geglaubt, daß Blut nicht kalt sein könne, daß das allenfalls eine Redewendung oder eine Metapher sei. Jetzt war sie eines Besseren belehrt worden. »Von wem redest du?«
War es bloße Theatralik oder etwas Tieferliegendes, ein Genuß an der eigenen Blasphemie, weswegen Melanchthon zögerte? Ruhig und zufrieden sagte er: »Die Göttin.«
»Nein!«
»Komm schon! Den Verdacht hast du nie gehabt? Tief in deinen schlaflosen Nächten hast du niemals eingesehen, daß das Leben selbst Beweis dafür ist, daß die Göttin dich nicht liebt? Daß sie dir bestenfalls feindselig gesinnt ist und daß dein Schmerz sie sicherlich erheitern muß, denn welchem anderen Zweck sollte er sonst dienen? Du kannst deinem Schicksal nicht entrinnen. Du hast eine kleine Rolle bei der großen Zerstörung zu spielen. Darauf solltest du stolz sein.«
»Du bist wahnsinnig«, flüsterte Jane. »Niemand kann die Göttin vernichten.«
»Niemand hat’s je versucht.« Melanchthon sprach glatt und überzeugend, ganz und gar nicht wie ein Wahnsinniger. »Unsere Zeit der Trennung war nicht vergeudet, das verspreche ich dir. Ich habe die Herrschaft über meine eigene Entwicklung übernommen und mich weit über die normalen Grenzen meiner Art hinausbegeben. Ich habe die zerstörerische Macht, zweifle niemals daran. Aber für einen abtrünnigen, eidbrüchigen und herrenlosen Drachen gibt es keine Zukunft. Der Himmel ist mir verschlossen. Ich kann entweder auf ewig über die Wurzeln und Keller der Welt kriechen, oder ich kann mich an einem letzten entscheidenden Flug erfreuen. Diesmal jedoch werden die Hüter des Gesetzes wachsam sein. Nun, sollen sie es sein. Ich werde einen vierten Flug durch das Höllentor unternehmen. Ich werde das Spiralschloß selbst angreifen, und ich werde es auslöschen und die Göttin aus den Trümmern herausholen.
Und bei allem, was unvorhersehbar ist, schwöre ich, daß ich das Luder umbringen werde.«
»Es ist unmöglich«, sagte Jane schwach.
»Du bist noch immer von Hoffnung verseucht. Du glaubst, es gibt irgendwo ein Leben, das es wert ist, gelebt zu werden, und daß irgendeine Kombination aus Handlung, Zurückhaltung, Wissen und Glück dich retten wird, wenn du nur die richtige Mischung hinbekommst. Nun, da habe ich Neuigkeiten für dich. Gleich hier, gleich jetzt - besser oder schlechter wird es nie werden.«
»Alles wird besser!«
»Ist je etwas besser geworden?« Die Geringschätzung des Drachen war zum Greifen. Zischend öffnete sich die Luke zur Kabine. »Geh! Kehre in dein Zimmer zurück und erfreue dich an meinem Geschenk! Kehr zurück zu mir, wenn du erwachsen genug geworden bist, der Sinnlosigkeit ins Gesicht zu sehen, ohne davor zurückzuzucken! Kehr zurück zu mir, wenn du verzweifelt und über die Verzweiflung hinaus bei der Rachsucht angelangt bist! Kehr zurück zu mir, wenn du dich nicht mehr selbst belügen willst!«
»Ein Geschenk?«
Die Lichter erloschen. Melanchthon gab keine Antwort.
»Erfreue dich an meinem
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