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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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gerührt von dem Geschenk und freute sich dermaßen, daß sie sich geradezu schämte.
    »Die ist Spitze !« Er saß aufrecht im Bett, löste den Fetzen vom Kopf und enthüllte einen schrecklichen Moment lang die Ruine seines Auges. Dann senkte er den Kopf, zurrte das Band zurecht, und als er sich aufrichtete, war er wieder der alte Rooster. Sein Lächeln zog sich an der einen Seite des Gesichts höher hinauf als auf der anderen, wie im Versuch, die fehlende Symmetrie weiter oben auszugleichen. Die Stirnlocken fielen ihm auf eine großspurige, irgendwie piratenhafte Weise über das Band.
    Er hüpfte vom Bett. »Wo ist ein Spiegel?«
    Jane schüttelte den Kopf und lachte lautlos, denn seine Freude war ansteckend. Natürlich gab es im Schlafraum oder in der Nähe davon nirgendwo einen Spiegel. Industrielle Sicherheitsregeln untersagten das.
    Rooster steckte die Daumen in die Achselhöhlen, bildete Flügel mit den Ellbogen und stellte sich auf ein Bein. »Dimity, gib bloß acht, jetzt komme ich!«
    Aufgeschreckt bat Jane: »Oh, laß dich nicht auf einen Kampf mit ihr ein. Bitte nicht!«
    »Ich habe diesen Kampf nicht angefangen.«
    »Sie ist stärker als du. Zur Zeit.«
    »Es sind lediglich die anderen Kinder, die sie so stark machen. Ohne deren Vertrauen ist sie nichts. Die ganze Macht wird zu mir zurückkehren, sobald ich Blugg getötet habe.«
    »Du kannst Blugg nicht töten.«
    »Wart’s nur ab!«
    »Nun, ich will nichts mehr davon hören«, sagte Jane. »Ich geh ins Bett.« Und das tat sie.
    Aber sie hatte das schreckliche Gefühl, daß ihr unschuldiges Geschenk etwas in Gang gesetzt hatte, das nicht mehr zu beherrschen war.
    Jane stand auf Abruf vor Bluggs Büro, als Rooster mit der Hexennuß heranschlich, die zu stehlen er versprochen hatte. Er zwinkerte ihr einäugig zu und drückte ihr die Nuß in die Hand.
    »Ist es Kirsch?« fragte sie.
    »Natürlich«, sagte Rooster. »Wofür hältst du mich eigentlich? Für einen Vollidioten?«
    »Sei nicht grob.« Jane ließ die Nuß unter ihrem Hemd in eine Tasche gleiten. Sie wurde allmählich eine ziemlich gute Diebin; die Bewegungen liefen jetzt fast automatisch ab. Zu ihrer Überraschung merkte sie, daß ihr das Stehlen wirklich Spaß machte. Es hatte etwas Dunkles, Bebendes, Prickelndes, sich in Gefahr zu bringen und dennoch der Bestrafung zu entgehen.

    Als Jane in dieser Nacht vom Schloß zurückkehrte, schliefen die anderen Kinder bereits. Geübt und behende streifte sie ihre Schürze ab, schlüpfte unter ihr Bett und hob das lose Brett. Flink wie ein Nachtaffe erkletterte sie die Innenseite der Mauer.
    Der Wind war wie ein Peitschenhieb. Sie kauerte sich tief auf das Dach, und ihre Haut war blau vor Kälte. Aber die Dame Mond verlieh ihr die Kraft, es auszuhalten. Mit all ihrem Willen starrte sie auf die Hexennuß in ihrer Hand, rief sich die Spezifikationen ins Gedächtnis: Ausmaße, Gewicht und genaue Zusammensetzung der Metallegierung.
    Nichts geschah.
    Sie schaukelte die Nuß genau in die Mitte ihrer Handfläche, konzentrierte sich auf das Gewicht und wie es sich anfühlte, auf das Glitzern des bleichen Mondlichts, das in den Facetten spielte, auf das enge Gewinde in ihren Kern hinab. Da spürte Jane, wie ihr Wissen über die Nuß mit einem fast hörbaren Klicken zu einem perfekten Ganzen zusammenschnappte.
    Ich weiß alles von dir, dachte sie. Flieg!
    Die Nuß stieg wirbelnd in die Luft.
    Jane war zufrieden. Die Kenntnis der Natur der Hexennuß hatte ihr Macht darüber verliehen. Sie mußte tun, was sie, Jane, wollte. Ebenso wußte sie, daß 7332 trotz seines Schweigens sie brauchte. Eines Tages würde er sie rufen. Dann wäre sie bereit. Sie wüßte seine Spezifikationen in- und auswendig. Und wenn sie gingen, wüßte sie den Namen des Drachen.
    Sie hätte ihn unter Kontrolle.
    »Was tust du hier oben?«
    Jane fuhr entsetzt herum. Rooster stieg durch die Falltür. Er hatte ein breites, schmieriges Grinsen im Gesicht, und Jane, die sich ihrer Nacktheit bewußt wurde, versuchte vergebens, sich mit den Händen zu bedecken. »Sieh nicht her!«
    »Zu spät. Ich hab bereits alles gesehen.« Rooster lachte. »Du siehst aus wie Glam persönlich, wenn sie auf den Dächern reitet.« Aus dem Schatten hinter sich holte er eine Decke hervor. Nachlässig legte er sie Jane um die Schultern. »Da. Das dürfte wohl beweisen, daß ich auf deiner Seite stehe.«
    »Ach! Wieder Seiten!« Errötend zog Jane die Decke fest um sich.
    Rooster stand auf Zehenspitzen und streckte

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