Die Tochter des stählernen Drachen
demütigender Ereignisse, die endlos und unausweichlich wie in einem Alptraum aufeinandergefolgt waren.
»Laß das!«
Benommen starrte Jane in ein Gesicht hinauf. Niemals hätte sie erwartet, daß sie froh über seinen Anblick gewesen wäre.
Es war Grunt.
Er streckte ihr eine gewaltige Pranke entgegen und half ihr beim Aufstehen. Sie zog die Hose hoch und schloß die Gürtelschnalle. Als sie erneut aufsah, war Ratsnickle geflohen. Lautstark trampelte er durch das Unterholz.
»Du schmutziges Kind!« Grunts Lippen waren weiß vor Wut. Die winzigen Augenbrauen bildeten ein komisches V oberhalb der ausdruckslosen Scheiben seiner Brillengläser. Er stieß Jane auf den Pfad zurück und faßte sie beim Kragen ihrer Bluse. Der Stoff drückte ihr gegen die Brüste und grub sich schmerzhaft in die Achselhöhlen. »Du schmutziges kleines Luder!«
»Aber ich hab doch nichts getan!« Sie spürte, wie ihr Gesicht allmählich anschwoll. Grunt konnte doch unmöglich glauben, sie wäre willige Teilnehmerin bei dem Geschehen gewesen! Nicht, wenn es sie dermaßen schmerzte! »Es war Ratsnickle, der ...«
»Maul halten!«
Er führte sie im Eilmarsch durch die Menge in die Taverne. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf den Buffetier, der in einem Sessel schnarchte, und dann hatte Grunt eine Tür aufgestoßen und sie in die Garderobe geworfen. Er schlug die Tür hinter sich zu. »Zahlst du mir so alle meine Schmerzen zurück? Du Verruchte! Verführst ehrliche Knaben durch deine häßlichen Methoden.« Er war außer sich vor Empörung. »Ich habe gedacht, wir wüßten alles über dich. Aber das hier - das hier!«
Plötzlich hielt er inne und beugte sich näher heran. Er blähte die Nasenflügel. »Und du riechst nach Alkohol!«
Die Lektion dauerte ewig. Sie war kaum auszuhalten, nicht nur, weil sie nicht zur eigenen Verteidigung sprechen konnte, sondern auch weil er, ähnlich wie Ratsnickle, jedesmal dann erneut die Beherrschung verlor, wenn sie wegschaute. Sie verstand ihn nicht. Sie folgte jedem Wort so dicht, daß es so fest und wirklich wie ein Objekt wurde - ein Hammer, ein Keramikbecher, ein bemalter Stein -, und doch konnte sie ihm keinen weiteren Sinn abgewinnen.
Schließlich ging Grunt die Luft aus. »Geh!« Er stieß die Garderobentür auf und rief ihr hinterher: »Wir beobachten dich, junge Dame! Glaub nicht, wir täten es nicht. O nein! Glaub das ja nicht!«
Jane stolperte davon.
Draußen war es die Dämmerstunde zwischen Nachmittag und Abend. Papierlaternen waren aufgehängt, jedoch noch nicht angezündet worden. Jane weinte nicht. Soviel Beherrschung hatte sie noch.
In ihrem Kopf herrschte ein konfuser Knoten. Mit Ratsnickle und dem Kinderfänger, alles verheddert mit Grunt und der Stimme im Gehölz. Jeder war wütend auf sie; es war, als wäre die Wut, die sie selbst verspürte, gegen sie gerichtet worden. Ihr schmerzte das Gesicht, und ihre Gedanken waren sprunghaft, unstet, unverbunden. In einem solchen Zustand konnte sie nicht nach Hause gehen. Melanchthon würde ihren Zorn mit Schweigen und widerwärtiger Heiterkeit begrüßen. Immerhin hatte er bekommen, was er wollte, ohne sich für sie einsetzen zu müssen. Sie schmeckte seine Belustigung förmlich auf der Zunge, und sie kam sich deswegen wie die Zielscheibe eines schmutzigen Witzes vor.
Alle ihre Bekannten waren noch immer beim Grillfest. Mit einem solchen Gesicht konnte sie nicht ins Einkaufszentrum gehen. Da blieb nur ein sicherer Hafen.
»Heilige Scheiße, Mädchen! Siehst aus, als hättste ’ne Schlägerei hinter dir.«
»Du solltest mal den anderen Burschen sehen«, murrte sie. Aber die Stimme war zu tief, zu dunkel. Sie war noch nicht wieder in der Verfassung, normal zu sprechen. »Ich möchte mich an dir ein bißchen nützlich machen.« Sie lächelte gequält. »Du mußt gut ausgesehen haben, als du neu warst.« Ragwort schwang das Auge angespannt herum. »Hey, du darfst das Zeug nicht ohne Vorbereitung einfach so draufschmieren. Zunächst mußt du den Rost abschmirgeln.«
»Na gut!« fauchte sie. »Dann werd ich das tun.« Sie zog Schutzbrille und Staubmaske über und stöpselte den elektrischen Schleifstein an.
»Hör mal, Schwester. Nicht, daß ich dir nicht trauen würd oder so, aber wie wär’s, wenn du drüben auf der Werkbank einen Spiegel hinstellen würdst, so daß ich sehen kann, was du tust? Ich kann dir sagen, wie’s geht.«
Jane zögerte, dann nickte sie. Sie stellte den Spiegel auf.
»Okay. Zunächst mußte mal ’ne
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