Die Tochter des Teufels
er Nadja irgendwo im Wald vermutete. Was nun geschah, war wie eine Windhose, die über dem Bois de Boulogne stand. Der feine, tiefe Sand des Reitwegs wurde hochgeschleudert und fiel als Staubwolke zurück, heulend schraubte sich der Wagen durch den Weg, und dabei benutzte Saparin sogar eine Hupe, denn er selbst sah nicht mehr, wohin er fuhr, weil ihn der Sand völlig einhüllte. Blind raste er weiter und wußte, daß er in der richtigen Richtung fuhr, solange unter ihm der feine Sand aufwirbelte.
Und endlich, endlich, an der Kreuzung des großen Reitweges mit einem engen Pfad, wo Saparin notgedrungen halten mußte, um sich zu orientieren, sah er Nadja Gurjewa auf dem kleinen Pfad langsam durch die Sonnenstreifen reiten.
Saparin hupte wie irr, sprang dann aus dem Wagen und rannte mit fuchtelnden Armen Nadja entgegen. Sie hatte ihren Rappen herumgeworfen und starrte dem von oben bis unten mit Staub bedeckten Saparin entgegen.
»Nadja Grigorijewna!« schrie er außer Atem. »Sofort zurück! Reiten Sie! Reiten Sie! Zum Waldstück an der Allée de la Reine Marguerite! Mein Gott, fliegen Sie, Nadja! Sie duellieren sich! Mit Pistolen! Die Verrückten schießen sich tot!«
Nadja stieß einen hellen Schrei aus. Dann gab sie dem Rappen die Sporen, er stieg auf die Hinterläufe, Saparin warf sich platt in den Sand, und über ihn hinweg galoppierte Nadja mit dem Pferd in den Wald hinein.
Das Zeremoniell, das General de Polignon zelebrierte, war umständlich und lang.
Zunächst schritt er den Duellplatz ab und untersuchte, ob der Waldboden auch eben war. Dann ließ er die Pistolen begutachten, die in dem schwarzen Kasten auf blauem Samt lagen. Er ließ jeden in die Läufe blicken und sich davon überzeugen, daß die Züge sauber geputzt waren.
»Muß das sein?« fragte Gabriel gequält.
»Es muß! Rost gibt Infektionen!« Der alte General lud die Pistolen und legte sie wieder zurecht. Dann begutachtete er das chirurgische Besteck des Arztes, vermißte eine Knochensäge und begann eine laute Diskussion über Amputationen am Kampfplatz.
»Wann geht es denn los?« rief Gabriel und zog seinen Rock aus.
»Sofort!« General de Polignon stellte sich an die Plätze, wo die Duellanten stehen sollten, und winkte ab: »Unmöglich!« schrie er. »Mein Mandant hat die Sonne im Gesicht. Das blendet und beeinträchtigt die Zielsicherheit! Gehen wir zwanzig Schritte weiter!«
Dort hatte Gabriel die Sonne im Genick, wie Baron de Signy feststellte. Hitze im Nacken verwirrt!
»Weiter nach rückwärts!« kommandierte der alte General. »Ein Duell soll alle Zufälle ausschließen und fair sein!«
Man wanderte dreimal auf dem Duellplatz herum, bis endlich die richtigen dreißig Meter Abstand gefunden waren, die keinerlei Behinderungen aufwiesen. Stanislas sah in den herrlichen blauen Sommerhimmel.
»Wenn wir weiter warten, kommt auch hierher die Sonne. Meine Herren, die Erde dreht sich bekanntlich und steht unsertwegen heute nicht still. Also los!«
Er warf seinen schwarzen Rock ab, nahm die Pistole und stellte sich auf. Gabriel tat es ihm gleich, und nun standen sie Rücken an Rücken und warteten auf das Kommando: »Los!«
Fünfzehn Schritte jeder, dann eine Kehrtwendung auf dem Absatz, Pistole hoch und schießen. Den ersten Schuß hatte Stanislas als der Beleidigte, und das war es, was dem alten General Sorgen machte. Schoß Stanislas vorbei, konnte man nur noch zu Gott beten!
»Das Reglement schreibt vor«, sagte de Polignon als letzten verzweifelten Versuch, etwas zu retten, »daß vor dem Kugelwechsel noch einmal an jeden der Herren appelliert wird, Vernunft anzunehmen und sich die Hände in Freundschaft zu reichen. Ich frage Sie, meine Herren, ob Sie –«
»Nein!« sagte Gabriel barsch als erster und unterbrach damit den General.
»Nein!« sagte auch Stanislas.
Der General wischte sich über sein rotes Gesicht. »Also dann. Haltung! Meine Herren … los!«
Stanislas und Gabriel schritten vorwärts. Jeder zählte seine Schritte.
Vier – sieben – neun – zehn –
Durch den Wald preschte in diesen Sekunden Nadja wie der sagenhafte sibirische wilde Jäger. Sie hing über dem Hals ihres Rappens und hieb ihm die Sporen in die Weichen, daß der Gaul vor Schmerz aufschrie.
Elf – zwölf –
Stanislas sah wieder in den blauen Himmel. Und in diesen letzten Sekunden, bei diesen letzten Schritten wußte er plötzlich, daß er den Himmel, die Sonne, die grünen Bäume zum letztenmal sah. Aber das machte ihn nicht traurig oder
Weitere Kostenlose Bücher