Die Tochter des Tuchhandlers
stand in der Mitte der Bauruine unter freiem Himmel. Es begann zu regnen. Ein feiner, kalter Novemberregen durchnässte seine Kleidung und lieà den Marmor der Säulen, die man noch nicht fertig bearbeitet hatte, und den gemusterten Boden glänzen. Seit Bramantes Tod vor elf Jahren waren die Bauarbeiten kaum vorangeschritten. Der groÃe Architekt Bramante hatte die Vision von einem Neubau der Peterskirche gehabt und einen kuppelbekrönten Zentralbau über dem Grundriss eines griechischen Kreuzes geplant. Mari stieà gegen einen herausgebrochenen Stein. Eine schöne Idee, diese Mischung aus Basilika und Pantheon, aber selbst Raffael, der Bramante ins Baumeisteramt gefolgt war, hatte die Arbeiten nicht vorantreiben können. Jetzt arbeiteten Sangallo und Peruzzi gemeinsam am Petersdom, und das Ergebnis waren ständig wechselnde Pläne.
Der Sekretär schlenderte am Petrusgrab und am Eingang der Grotte vorbei, in der sich die Krypta befand. Das Zentrum der Christenheit war eine Ruine. Die Metapher war so passend, dass Mari ein trockenes Lachen ausstieÃ. Ein Arbeiter, der Schutt in Eimer schaufelte, sah ihn verwundert an. Am späten Nachmittag war Alberto Mari durch die Porta del Popolo über die gleichnamige StraÃe in die Stadt geritten. Innerhalb der Stadtmauern spürte man auÃer einer vermehrten Anzahl von Kriegsflüchtlingen nichts vom Schlagabtausch kaiserlicher und päpstlicher Truppen im Norden des Landes. Händler, Hausierer, StraÃenmusikanten, Bettler, Gassenkehrer und was sonst an Volk eine Stadt bevölkerte, drängten sich in den StraÃen entlang dem Tiber.
Nachdem Mari die Ponte Sant Angelo überquert hatte, war er an den prächtigen Palazzi der Kardinäle im Borgo vorübergekommen. Die Vatikanstadt erhob sich auf der anderen Tiberseite und war über fünf StraÃen, die Borghi, zu erreichen. Am Fluss lag das Castel Sant Angelo, das durch einen Geheimgang mit dem Vatikan verbunden war. Hospize und Klöster, die vor allem die unzähligen Pilger aufnahmen, befanden sich ebenfalls auf dieser Tiberseite. Der Sekretär schritt über die Treppe zum Vatikanpalast. Vom Fluss und von den Borghi klangen noch die Schreie der Händler und die Betriebsamkeit des ausklingenden Tages herauf. Die livrierten Diener des Vatikanpalasts zündeten Ãllampen und Fackeln an, und die Wachen der Schweizergarde standen mit ihren Hellebarden und glänzenden Helmen vor allen Ein- und Ausgängen.
Mari zeigte seinen Passierschein vor und wurde eingelassen. Im Frühjahr wäre er durch die Gärten gewandert, doch jetzt lag alles grau unter dem trüben Novemberregen, und er war froh, als er den ersten der mächtigen Korridore des Vatikanischen Palasts betreten konnte. Hier, im Civitas Dei, dem Staat Gottes, umfing ihn Ruhe. Zu Beginn seiner Ausbildung zum Priester war er von den Regeln, der streng geordneten Hierarchie und dem Habitus der geistlichen Männer beeindruckt gewesen. Inzwischen wusste er es besser. Prunksucht und Machtgier hatten vor den goldenen Toren des Vatikans nicht Halt gemacht, auch wenn die Kunstwerke hier von den gröÃten Künstlern Europas geschaffen worden waren.
Ein Diener fragte nach seinem Auftrag, doch Mari winkte ab. Er kannte sich aus in dem Labyrinth aus über eintausend Räumen mit ebenso vielen Treppen und zahlreichen Innenhöfen und ging zielstrebig zur Loggia della Cosmografia.
Die Loggia lag gegenüber dem Petersplatz und beherbergte die privaten Gemächer von Papst Clemens VII. In unmittelbarer Nähe befanden sich die Räume des päpstlichen Geheimsekretärs Domenico Flamini.
»Euer Exzellenz.« Mari verneigte sich tief, nachdem er von einem Abbreviator, einem der niederen Beamten, in Flaminis Arbeitszimmer geleitet worden war. Wie fast alle Beamten trug auch Mari heute seinen schwarzen Rock. Flamini stand am Fenster, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und wippte auf den FuÃspitzen, wie er es häufig tat. Vielleicht versuchte Flamini dadurch gröÃer zu wirken, denn er war einen halben Kopf kleiner als Mari, aber wenn man ihn sprechen hörte, vergaà man seine wenig beeindruckende Physiognomie, denn der Geheimsekretär war intelligent und gefährlicher als eine gereizte Kobra.
Ohne sich umzudrehen, sagte Flamini scharf: »Ich hoffe, Ihr habt den weiten Weg nach Rom nicht ohne bahnbrechende Neuigkeiten gemacht!«
Mari schwieg, denn er hatte
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