Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
mit jedem Blick
zur verschlossenen Tür. Jolanthe saß auf dem Schemel, die Hände im Schoß gefaltet,
und starrte auf den Boden. Nur in Abständen hob sie den Blick, um die Tür zu fixieren.
Sie hatte ihre Bemühungen mit dem Schloss unterbrochen, weil ihr klar geworden war,
dass sie mit jedem Fluchtversuch warten musste, bis die Nacht anbrach. Dann würde
im Haus Betrieb herrschen und ihre Möglichkeiten zu entkommen wurden größer. Was
sie draußen tun wollte, wo sie sich hinwenden würde, all das schob sie von sich
weg, das musste sich fügen. Erst einmal hier herauskommen.
Sie wusste,
dass das Haus der deutschen Kaufleute am Canal Grande nahe dieser eindrucksvollen
Brücke lag, und das musste genügen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo sie sich
im Moment befand. Sicher nicht im Zentrum der Stadt. Sie starrte wieder auf den
Boden und zählte die Käfer.
Plötzlich
hörte sie wieder dieses Knirschen, welches das Türschloss verursachte. Es durchschnitt
die vorherige Stille so durchdringend, dass Jolanthe zusammenschrak und hastig hochblickte.
Die Tür schwang auf, das Mädchen betrat den Raum. Auf ihren Lippen lag ein schüchternes
Lächeln, und in den Händen trug sie erneut einen Krug sowie eine Schüssel mit Eintopf.
Sie stellte beides am Boden ab. Dann schickte sie sich an, den Nachttopf zu nehmen,
um ihn auszuleeren, doch Jolanthe griff ihre Hand und verstellte ihr den Blick auf
die Tür. Sie durfte auf keinen Fall das malträtierte Türschloss zu Gesicht bekommen.
»Bist du
in diesem Haus die Magd?«
Laetizia
verstand nicht, oder sie tat nur so, das konnte Jolanthe nicht einschätzen.
»Männer?
Du?«, versuchte es Jolanthe erneut, und dieses Mal schüttelte das Mädchen den Kopf.
»Putzen«,
antwortete sie und drehte sich halbherzig, um ihre Hand zu befreien. Jolanthe hielt
sie umso fester.
»Ich hier
raus. Du helfen!« Sie untermalte ihre Worte mit Gesten. Laetizia verstand. Heftig
schüttelte sie den Kopf.
»Hier bleiben.
Mann sagen zu uns. Geben Geld.«
»Was für
ein Mann? Wer war es, wie sah er aus?«
Laetizia
zog die Brauen zusammen. Es war ihr anzusehen, dass sie am liebsten so schnell wie
möglich das Zimmer verlassen hätte, doch Jolanthe ließ nicht locker.
»Aussehen?
Haare? Dünn? Dick?«
Das Mädchen
sog sie Wangen ein und strich mit der freien Hand darüber.
»Schmales
Gesicht?«, übersetzte Jolanthe.
Laetizia
zog sich selbst die Nase lang.
»Eine spitze
Nase«, meinte Jolanthe, und Laetizia nickte, machte die Schultern schmal.
»Schmale
Gestalt.«
In dem Moment
hörte sie ein Schlurfen im Flur, das immer näher kam. Dielen knarzten unter dem
Gewicht einer Person, und sie hörte ein Schnaufen, als wenn besagter Mensch nicht
gut zu Fuß unterwegs war. Jolanthe ließ das Mädchen los und drehte sich, um gewappnet
zu sein für wen auch immer. Zwei Wimpernschläge musste sie warten, dann füllte die
Gestalt einer dicken Frau den Türrahmen aus. Das Gesicht hatte sie angemalt, ihre
fülligen Formen verschwanden unter einem ebenso farbenfrohen Gewand wie das von
Laetizia. Zu Laetzia gewandt begann die Frau zu sprechen. Kurze, knappe Befehle,
die das Mädchen zusammenzucken ließen. Sie sprach Italienisch, und Jolanthe verstand
nur den vorwurfsvollen Ton. Laetizia übergab den Schlüssel und verschwand aus dem
Raum. Die Frau starrte Jolanthe an. Das Schweigen lag drückend im Raum, bis sie
sich endlich umdrehte, die Tür zuschlug und den Schlüssel im Schloss drehte.
Sie haben
es nicht bemerkt, dachte Jolanthe und ließ sich auf den Schemel sinken. Ihre Hand
zitterte, als sie sich über die Stirn wischte. Dann zwang sie sich dazu, weiter
zu warten.
Jolanthe spürte mehr als sie sah,
dass langsam der Abend anbrach. Das ohnehin durch die geschlossenen Läden dämmrige
Licht bekam kaum merklich eine andere Färbung und wurde schwächer. Sie erhob sich,
hatte sich die einzelnen Schritte in den vergangenen Stunden immer wieder vor Augen
geführt, doch sie wollte nicht vor Ungeduld zu früh mit den Vorbereitungen beginnen.
Zeitweise dachte sie, sie halte das Stillsitzen nicht mehr aus. Jetzt, wo der Zeitpunkt
der Flucht immer näher rückte, wünschte sie sich die Reglosigkeit auf dem Hocker
zurück. Sie strich sich mit den Fingerkuppen über die Stirn und sagte halblaut:
»Ich schaffe das!«, um sich Mut zu machen. Dann trat sie an das Bett, nahm die Decke
und stopfte sie so gut es ging mit Stroh aus. Das alles drapierte sie derart, dass
es aussah, als schlafe dort jemand.
Und
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