Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
die
offene Tür?, dachte sie unvermittelt. Die werde ich nicht wieder verschließen können,
wenn ich erst draußen bin. Warum war ihr das nicht schon eher aufgefallen? Die schönste
Deckenwölbung auf dem Bett nutzte nichts, wenn der Laden sperrangelweit offen stand.
Sie biss sich auf die Unterlippe, fand auf die Schnelle keine Lösung und beschloss,
darauf zu vertrauen, dass in der Nacht niemand das Zimmer betrat.
Das Zweite,
um das sie sich kümmern musste, waren ihre Haare. Sie bückte sich, riss einen Streifen
von ihrem Untergewand ab, was sich als schwieriger herausstellte, als sie gedacht
hatte. Der Stoff war fest und hielt ihren Bemühungen eine Zeit lang stand. Endlich
gelang es. Sie band sich die Haare im Nacken zu einem festen Knoten. Sie musste
alles sehen können, es durfte ihr nichts vor den Augen hängen.
Erneut ein
tiefes Durchatmen, dann lauschte sie Augenblicke lang auf die Geräusche im Haus.
Sie hörte nicht viel. Offenbar erwachte es erst langsam zum Leben, die ersten Kunden
kamen und bändelten mit den Frauen an. Gut so. Wenn sich unter ihr im Zimmer noch
niemand aufhielt, dann würde es einfacher werden. Sie glaubte zwar nicht, dass die
Mädchen von der Gefangenen in ihrem Haus wussten, aber je weniger Aufsehen sie erregte,
desto besser.
»Also nur
Mut«, sagte Jolanthe sich, nahm die Scherbe und versuchte möglichst geräuschlos
den Türrahmen um das Schloss herum auszukratzen. In dicken Splittern brach das Holz
heraus. Sie schob die Scherbe in das entstandene Loch und drückte, um das Metall
zu lockern. Es reichte noch nicht, also bohrte sie mit dem spitzen Scherbenende
weitere Splitter heraus. Endlich knackte es. Ein Rütteln an der Tür ließ das Schloss
gänzlich herausbrechen. Jolanthe blickte auf einen dunklen Flur.
Gut gemacht,
dachte sie. Die Scherbe legte sie auf den Schemel. Kurz blickte sie sich noch einmal
in ihrem Gefängnis um, dann schlüpfte sie durch die offene Tür und zog sie hinter
sich zu. Vom Gang gingen weitere Türen ab, die nur als dunkle Schatten sichtbar
waren. Jolanthe drückte sich an die Wand und schlich in Richtung eines Lichtschemen,
der vom unteren Stock kommen mochte. Sie erreichte eine Treppe. Stimmen drangen
zu ihr hoch, ein Mann, der etwas sagte, dann das Lachen einer Frau. Offenbar verschwanden
sie in einem der Zimmer, denn eine Tür knarrte, und dann war es ruhig.
Behutsam
setzte Jolanthe ihre Schritte, als sie die Treppe hinabstieg. Etliche Stufen knarrten,
und jedes Mal hielt sie die Luft an. Wenn ich weiter so vorsichtig bin, werde ich
allein wegen meines Verhaltens entdeckt, dachte sie und trat auf den Gang, um sich
umzusehen. Auf kleinen Hockern brannten Talglichter und warfen ihren Widerschein
an fleckige Wände. Es ging noch ein weiteres Stockwerk tiefer, und von dort kamen
Stimmen, die durcheinander sprachen, so als befände sich dort eine größere Gruppe.
Weiter!,
befahl Jolanthe sich und nahm die nächste Treppe, etwas weniger vorsichtig, um nicht
aufzufallen. Wieder betrat sie einen Flur. Die Geräusche kamen aus einem der Zimmer.
Sie hatte keine Zeit, sich zu orientieren, und lief wahllos in eine Richtung, die
sich als Sackgasse herausstellte. Stimmen kamen näher, die Silhouette eines Mannes
erschien im Türrahmen und Jolanthe floh in den nächstbesten Raum.
Hier war
es dunkel. Nur die Lichter des am gegenüberliegenden Kanalufers stehenden Hauses
konnte sie durch das offene Fenster erkennen. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen
die Tür, die sie hastig geschlossen hatte. Zunächst dachte sie, sie sei allein,
dann aber hörte sie eine Stimme, die ihr eine Gänsehaut verursachte. Sie verstand
kein Wort.
Ein Schatten
glitt auf sie zu, Hände grapschten nach ihrem Busen. Jolanthe unterdrückte einen
Schrei, riss sich los und hastete auf das Fenster zu. Panisch kletterte sie hinaus,
ließ sich fallen und holte tief Luft, bevor das eiskalte Wasser sie umschloss. Sie
schlug um sich, ihr Kleid sog sich voll und wollte sie in die Tiefe ziehen. Es gelang
ihr, wieder an die Oberfläche zu kommen. Prustend holte sie Luft und versuchte zu
schwimmen, weg von dem Gesicht, das ihr durch das Fenster nachstarrte.
Sie kam
kaum voran. Die Kälte kroch in sie, und sie hatte das Gefühl, ihre Kleidung werde
immer schwerer. Die Gondel sah sie erst, als sie dagegen stieß. Ein Mann beugte
sich zu ihr herunter, sagte etwas, doch sie konnte nicht antworten. Sie streckte
die Hand hoch. Ein Glück, der Mann packte sie und zog sie an Bord. Keuchend
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