Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
hoch, um nach dem Vater zu sehen. Er saß im Kontor an seinem Tisch. Das Kinn
auf die Hand gestützt, brütete er über den Abrechnungsbüchern und bemerkte seine
Tochter nicht.
Sieglinde
zog sich zurück und stieg ein Stockwerk höher. In ihrer Kammer nahm sie den Brief
zur Hand, drehte ihn und erbrach das Siegel. Dann begann sie zu lesen.
»Bin auf
dem Heimweg. Habe Boten in Hospiz getroffen, der unterwegs ist nach Nürnberg, er
wird die Nachricht mitnehmen und zu Euch bringen. Habe Euren Auftrag ausgeführt.
Eure Schwester ist sicher untergebracht, ihre Begleiter von ihrer Abreise unterrichtet.«
Sieglinde
schloss die Augen. Er hätte warten sollen, bis Martha und dieser Kaufmann Venedig
verlassen hatten. Stattdessen hörten sich seine Zeilen so an, als hätte er so schnell
wie möglich die Flucht ergriffen. Sie las erneut. Es war nichts mehr zu ändern.
Wichtig war nun, dass sie Cornelius bei seiner Rückkehr vor Winalds Zorn abschirmte.
Er würde sonst nie wieder etwas für sie tun, wenn sie ihm in diesem Punkt nicht
half.
Sie musste
mit Vater reden. Hastig verließ sie die Kammer, hielt an der Tür zu Jolanthes Zimmer
inne und betrat kurzentschlossen den Raum. Sie verschränkte die Arme vor der Brust
und überlegte, wo sie Jolanthes Sachen hinbringen sollte. Die Kleider konnte sie
verschenken, viele waren es ja nicht. Für das Zimmer würde sie eine Verwendung finden.
Man konnte es an einen Scholaren vermieten oder …
Was wird
Vater dazu sagen, dass er seine jüngste Tochter nie wiedersieht? Wie wird er diesen
Verlust verkraften? Sieglinde presste die Arme gegen den Bauch. Sie würde warten,
bis Cornelius zurückkam, genau. Mit ihm würde sie zu Winald gehen, ihm sagen, dass
sie Cornelius zu Jolanthes Schutz nach Venedig geschickt habe, dass die Schwester
sich nicht habe abbringen lassen von ihrer verrückten Idee, dorthin zu reisen. Nun
habe sie dort einen Mann getroffen und beschlossen zu bleiben. Dann würde sie rasch
ablenken und ihm von dem kleinen Enkel erzählen, der in ihrem Bauch heranwuchs.
Ja, das
klang gut. Die Wahrheit blieb ihr und Cornelius’ Geheimnis.
In den Tagen nach ihrer Flucht gelang
es Jolanthe langsam, ihre Ruhe zurückzufinden. Nachts schrak sie immer noch hoch
und wähnte sich im Zimmer des Hurenhauses gefangen. Einmal schlug sie wie wild auf
ihr Bett ein, weil sie glaubte, in einem schwachen Moment vom Hocker auf das mit
Ungeziefer verseuchte Strohlager ihres Gefängnisses geraten zu sein. Aber es wurde
besser. Tagsüber fühlte sie sich halbwegs gut.
Die Stadt
faszinierte sie nach wie vor, doch nun sah sie vieles mit anderen Augen. Ihre Erlebnisse
hatten sie vorsichtiger gemacht, was Martha und Pascal nur recht war. Die beiden
ließen sie nicht mehr aus den Augen, einer war immer mit ihr zusammen. Jolanthe
störte das nicht, im Gegenteil. Sie wollte nicht allein sein, nicht daran denken,
was ihr widerfahren war und ebenso nicht an die Personen, die es ihr angetan hatten.
Wie sollte sie Sieglinde und Cornelius je wieder unbefangen unter die Augen treten?
Ihre Wut und Enttäuschung zu verbergen sowie ihren Abscheu, um halbwegs normal mit
ihnen umzugehen, das erschien ihr auf die Entfernung nahezu unmöglich.
Deshalb
hatte sie auch keine Eile, nach Hause zurückzureisen. Pascal musste ohnehin zuerst
seine Geschäfte tätigen. Er hatte mit den Ravensburgern vereinbart, dass sie wieder
gemeinsam den Rückweg antreten würden. Mit Martha besuchte sie bekannte Orte in
der Stadt, sie wollten beide so viele Eindrücke wie möglich mitnehmen.
Am Hafen
ließen sie noch einmal die Geschäftigkeit auf sich wirken. Sie standen abseits und
beobachteten, wie das Schiff, das in ihrer Nähe ankerte, beladen wurde.
»Unglaublich,
wie groß diese Schiffe sind. Bist du schon mal auf einem gefahren?«, fragte Jolanthe
die Freundin.
»Bis jetzt
noch nicht.«
»Willst
du?«
Martha lachte.
Nach einem skeptischen Blick auf das Wasser antwortete sie: »Muss nicht sein. Zumindest
nicht über das Meer. Die Fahrten sind gefährlich und dauern lange.«
»Aber man
kann fremde Länder und Menschen kennenlernen, findest du das nicht aufregend?«
»Mir reichen
Liese und Ludwig auf meiner Burg. Die kenne ich bis heute noch nicht gänzlich.«
Sie schwiegen
eine Weile. Jolanthe musste an Marthas Bedienstete denken. Sie waren ihr immer ruhig
und loyal vorgekommen. Und sie dienten Martha seit einer halben Ewigkeit.
»Glaubst
du, Sieglinde weiß von ihnen, dass wir in Venedig sind?«
»Ich
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