Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
oben
drang der Ruf ihres Vaters herunter. Sie hörte ein Poltern und seufzte erneut, während
sie sich am Geländer der Treppe hochzog. Wenn das so weiterging, würde sie krumm
werden und ihre Haut verschrumpeln, noch ehe sie richtig gelebt hatte. Der Gedanke,
sich eine zweite Magd zu holen, kam ihr in letzter Zeit immer häufiger in den Sinn.
Noch war die Zeit nicht reif, noch lebte Jolanthe hier. Wenn sie doch nur auf immer
zu dieser Martha verschwinden würde! Wir zwei sind eine zu viel in diesem Haus.
Nein, sie schüttelte den Kopf. Martha und Jolanthe, die beiden heckten etwas aus,
das spürte sie im kleinen Finger. Und dieser Pascal hatte ebenfalls seine Hände
im Spiel. Sie musste vorsichtig sein und hatte doch das Gefühl, mehr und mehr im
Trüben zu fischen. Dabei hatte alles so gut begonnen nach ihrem klugen Zug mit der
Heirat.
»Was ist,
Vater?«, fragte sie, als sie die Tür zu seinem Gemach aufschob. Er saß auf der Bettkante,
hilflos, weil ihm die Krücke auf den Boden gefallen war und er sich nicht ohne den
Halt des zweiten Beines danach bücken konnte. Er weiß noch nicht, wie er damit umgehen
soll. Wenn er sich doch nur nicht so anstellen würde, dachte Sieglinde und bückte
sich.
»Gib mir
meine Kleider«, sagte Winald. »Ich habe es satt, hier herumzuliegen. Außerdem habe
ich Hunger.«
Sieglinde
zog seine Beinlinge aus der Truhe, dann ein Hemd und reichte ihm alles.
»Lasst doch,
Vater, ich bringe Euch das Essen hoch. Ihr kommt nicht mit den Krücken die Stiege
hinunter.«
Als Antwort
bekam sie nur ein Schnaufen. Winald war gerade dabei, sich die Beinlinge anzuziehen.
Er streifte das Hemd über. Sein Körper sah immer noch ausgezehrt aus, aber sein
Wille war zurück, das war unverkennbar.
»Ich fühle
mich, als hätte mein Gesicht seit Jahren kein Wasser mehr gesehen.« Er nickte in
Richtung der Waschschüssel. Sieglinde erhob sich, goss aus einer Kanne Wasser in
das Gefäß und tunkte einen Lappen hinein. Während Winald sich Gesicht und Arme säuberte,
hielt sie ihm das Gefäß, sodass er immer wieder nachtunken konnte. Er fuhr sich
mit dem Lappen über den Bart, einmal, zweimal.
»Ich will,
dass die Magd mir Bart und Haare auf ein erträgliches Maß stutzt und mir beides
wäscht.«
»Das wird
sie«, antwortete Sieglinde und setzte in Gedanken hinzu: Wenn Ihr die Stiege hinunter
bis auf den Hof humpeln könnt, damit ich hier oben nicht all die Haare auf dem Boden
habe.
Winald ließ
sich die Krücke geben und stützte sich darauf. Er schwankte im Bemühen, das Gleichgewicht
zu finden, doch er blieb stehen.
»Dieses
verfluchte Kräuterweib!«
»Jolanthe
hat sie geholt«, antwortete Sieglinde, doch zu ihrer Enttäuschung sagte er nichts
dazu, humpelte stattdessen zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Sieglinde sprang
ihm zur Hilfe. Statt wie angekündigt den Weg zur Stiege zu nehmen, hinkte er den
Gang entlang und zwängte sich durch die halb geöffnete Tür der Stube. Sieglinde
hörte seinen schweren Atem und mutmaßte, dass er selbst eingesehen hatte, dass er
die Treppe noch nicht überwinden konnte.
Sie schob
ihm einen Lehnstuhl zurecht und sagte wie beiläufig: »Es geht Euch doch besser.«
Winald zog
seine buschigen Brauen zusammen und musterte sie. »Ich bin ein Krüppel. Du erkennst
das so gut wie ich, und so werden es auch alle anderen wahrnehmen.«
»Jolanthe
…«, begann Sieglinde, aber er unterbrach sie.
»Deine Schwester
ist manchmal zu gutgläubig. Ich habe es ihr so oft schon gesagt, wenn sie mit ihren
wirren Ideen ankommt, wie man dieses oder jenes Geschäft besser tätigen könnte.
Vico sollte sie besser im Auge behalten, ich kann es ja nicht mehr.«
Sie hörte
die Bitterkeit aus seiner Stimme und wusste, dass der Zeitpunkt günstig war nachzusetzen.
»Ich habe Angst, dass er ihr nicht genügend Grenzen setzt, Vater. Es wird Zeit,
dass Ihr wieder gesund werdet. Stellt Euch vor, statt hier zu helfen, ist Jolanthe
einfach verschwunden.«
»Wohin?«
»Zu Martha
von Werdenberg.«
»Verfluchtes
Kräuterweib!«
»Und dieser
Pascal scheint sich auch um sie zu bemühen.«
Winald starrte
auf seine Hand. »Ich sollte ihr endlich einen Ehemann suchen, damit sie versorgt
ist.«
»Aber nicht
diesen Pascal«, antwortete Sieglinde. Alles, nur das nicht. Der würde sie alle über
den Tisch ziehen wie kein anderer. Man musste sich ja nur ansehen, wie er sie, Sieglinde,
behandelt hatte.
»Ehe dieser
Kerl auch nur noch einen Fuß in mein Haus setzt, stecke ich es lieber selbst
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