Die Todesbotschaft
immer noch zurechtzufinden.
Auf einer ihrer Wanderungen gelangte sie schließlich zu dem Bootshaus. So, als sei sie durch ein unsichtbares Band dorthin geführt worden. Sie musste an Doktor Radolfs eindringliche Worte denken, daran, dass ihr Erlebnis direkt vor jener Nacht mit der Wirklichkeit nichts zu tun gehabt hatte. Es war erschreckend für Gesa, wie lebendig dieser Traum noch immer vor ihrem inneren Auge stand, als hätte er kein bisschen an Intensität eingebüßt.
Auf der Suche nach einem Fenster lief sie um das Bootshaus herum. Die Scheiben waren schmutzig und verwehrten den Blick ins Innere. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich gegen die Holzwand und versetzte sich zurück in den Traum. Darin trug sie ihr braunes Etuikleid mit den cremefarbenen Grafiken. Um noch einmal mit Alexander zu sprechen, folgte sie ihm und sah ihn in diesem Bootshaus verschwinden. Durch das Fenster beobachtete sie ihn im Kreis seiner Freunde. Sie schienen sich zu streiten. Es waren jedoch nur Wortfetzen, die Gesa hören konnte. Einer der Männer hatte offensichtlich den Unmut der anderen auf sich gezogen. Sie redeten auf ihn ein, sagten, er solle ihre gemeinsame Sache nicht verraten. Es sei wie beim Rudern: Es gehe darum, im Team konzentriert das Ziel zu verfolgen. Aber der Mann schüttelte immer wieder den Kopf. Er schrie die anderen an, es gebe Tabus, die man nicht brechen dürfe. Was in einem Beichtstuhl gesprochen werde, sei tabu. Schließlich hatte sie an die Tür geklopft. Alexander hatte geöffnet und ihr gesagt, sie solle nach Hause gehen und dort auf ihn warten. Er würde gleich nachkommen.
Ein Traum, den sie für Wirklichkeit gehalten hatte. Nur warum? Auf diese Frage hatte sie nie eine befriedigende Antwort gefunden. War Doktor Radolfs Vermutung richtig, und sie hatte davon geträumt, im Beichtstuhl von ihrer Schuld loszukommen? Weil sie tief in ihrer Seele fest davon überzeugt gewesen sei, ein Tabu zu brechen, indem sie etwas mit dem Mann ihrer eigenen Schwester angefangen hatte? Hatte sie deshalb in der Nacht vorgehabt, erst ihr Kind und dann sich selbst zu töten?
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16
E s war ein strahlend blauer Tag mit genau dem richtigen Wind für die Segler. Einige von ihnen hatten sich bereits mit ihren Booten aufgemacht. In der Sonne erschienen die gesetzten Segel noch weißer, noch leuchtender. Es war ein Kalenderblattbild, das in seiner Schönheit fast schmerzte. Hätte es nur diesen Anblick gegeben, dazu das Summen der Insekten um uns herum und den Duft der Rosen in dem Terrakottakübel, hätte es ein entspannter Sonntagvormittag werden können, wie wir früher viele erlebt hatten.
Aber von alldem schienen wir Lichtjahre entfernt zu sein, nachdem so viele Menschen hatten sterben müssen. Und das nur, weil Adrians Vater angeblich den Hals nicht hatte voll bekommen können? Mein Vater war überzeugt, der materielle Erfolg habe Carls Ego befriedigt und sein eher schwach ausgeprägtes Selbstwertgefühl aufgewertet. Vielleicht habe er in seinem Reichtum auch ein sekundäres Geschlechtsmerkmal gesehen, das ihn, den eher unscheinbaren, äußerlich wenig attraktiven Mann für Frauen interessanter hatte werden lassen.
»Aber Carl hatte immer nur Augen für Cornelia«, hielt ich ihm entgegen und versuchte damit, mich für Adrians Mutter starkzumachen.
Mein Vater enthielt sich eines Kommentars, lediglich sein mitleidiger Blick sprach Bände.
»Und wo sind diese erpressten Gelder?«
»Darüber hat Carl sich nicht ausgelassen. Das hat auch letztlich keinen von uns interessiert. Aber ich vermute mal, dass er sie auf einem Auslandskonto deponiert hat.«
Adrian schien von alldem so gut wie nichts mehr mitzubekommen. Am ganzen Körper zitternd saß er in seinem Stuhl und schluchzte. Meinem Vater war es ganz offensichtlich unangenehm, seinen Schwiegersohn in so einem aufgelösten Zustand zu sehen. Er wandte sich ab, goss sich Kaffee in einen Porzellanbecher und fragte mich, ob ich auch einen wolle. Aber ich schüttelte nur den Kopf und strich über Adrians Rücken.
Als das Blackberry meines Vaters klingelte, nahm er das Gespräch sofort an und erhob sich, um sich in den Garten zurückzuziehen. Allem Anschein nach wollte er ungestört telefonieren. Ich flüsterte Adrian zu, er solle sitzen bleiben, ich sei gleich zurück. Dann rannte ich hoch in mein Zimmer, packte frische Wäsche, Jeans, T-Shirt und Pulli in einen Rucksack und bediente mich schließlich ein Stockwerk tiefer für Adrian im Schrank meines Vaters. Nachdem
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