Die Todesbotschaft
ihre Spange, kämmte die Haare mit den Fingern und arrangierte ihren Zopf neu.
Ich beobachtete sie dabei und konnte nicht glauben, dass sie etwas so Ungeheuerliches in einer Weise dahersagte, als liege es ganz selbstverständlich auf der Hand. »Weißt du, was du da behauptest?«
»Lass dich davon doch nicht so herunterziehen. Unsere Väter haben zu verantworten, was sie tun, nicht du oder ich. Ich wünschte nur, Amelie würde die Finger davon lassen. Aber ich glaube, die Vorstellung, auch mal ein wenig an den Stellschrauben der Macht zu drehen, reizt sie.«
In diesem Moment kam ich mir vor, als hätte ich während einer Filmvorführung kurz den Raum verlassen und bis zu meiner Rückkehr einen ganz entscheidenden Teil verpasst. »Wenn du wirklich überzeugt bist, unsere Väter kämen auf illegale Weise zu ihrem Geld, wie kannst du dann hier so einträchtig mit deinem Vater leben?«
»Jeder Schwarzarbeiter in diesem Land kommt illegal an sein Geld. Sollten sich deshalb deren Kinder reihenweise von ihnen lossagen?« Kerstin war fünf Jahre jünger als ich und redete in einem Ton mit mir, als habe ich in diesem Leben noch viel zu lernen.
»Das ist ein Totschlagargument«, konterte ich ärgerlich, »und das weißt du auch.«
Sekundenlang betrachtete sie mich schweigend. Schließlich sagte sie: »Ich habe meinem Vater viel zu verdanken. Und das werde ich nicht einfach unter den Teppich kehren. Gleichgültig, was er tut.«
»Was tut er denn?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich will es gar nicht wissen.«
Aber ich wollte es wissen. »Nach der Beerdigung gestern klemmte am Auto deines Vaters ein Brief, der ihn offensichtlich so schockierte, dass er zusammenzubrechen drohte. Ein gestandener Mann wie er.«
Kerstins Blick blieb völlig gelassen. »Dieser gestandene Mann wird im November siebzig, hat Übergewicht, einen hohen Blutdruck, ist chronisch überarbeitet und hatte gerade zwei Menschen zu Grabe getragen, die ihm nicht gleichgültig waren. Was erwartest du da? Zumal es ungefähr dreißig Grad im Schatten waren. Ich war froh, als ich ihn endlich heil nach Hause verfrachtet hatte.«
»Hat er dir vielleicht von dem Brief erzählt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er hat ihn in die linke Tasche seines Sakkos geschoben. Möglicherweise ist er noch drin …«
Sie sah mich an, als sei mir die Hitze zu Kopf gestiegen. »Wenn du an Türen lauschst, Finja, ist das deine Sache, aber erwarte nicht von mir, dass ich in den Sachen meines Vaters herumwühle. Und überhaupt: Was gehen dich Briefe an, die an ihn gerichtet sind?«
»Mein Vater hat auch so einen bekommen. Und er hat gelogen, als ich ihn danach fragte.«
»Dann wird er seine Gründe dafür haben«, meinte Kerstin lakonisch.
*
Gesa hatte lange darüber nachgedacht, ob sie Doktor Radolf vertrauen konnte. Sie hatte mit sich gerungen. Vielleicht würde er ihr einen Strick daraus drehen. Andererseits musste sie mit jemandem darüber reden. Dieser Satz brachte sie fast um ihren Verstand. In jeder wachen Minute grübelte sie und fragte sich, ob es stimmte, was sie gehört hatte. Wieder und wieder horchte sie in sich hinein, ob es dort einen Widerhall gab. Aber die Stimme, die in ihrem Inneren laut wurde, erzählte nichts vom Tod, nur etwas von Liebe.
Sie liebte ihr Kind. Vom ersten Tag an war es so gewesen. Sie hatte es im Arm gehalten, es herumgetragen, damit es einschlief, hatte es gestreichelt, die winzigen Finger berührt und die Luft angehalten, um es nicht zu wecken.
Doktor Radolf sah ihr entgegen, als sie sich ihm gegenübersetzte. Er begrüßte sie und betrachtete sie in aller Ruhe. Als müsse er sich erst selbst einen Eindruck von ihrem Zustand verschaffen, bevor er sie fragte. Auch Gesa betrachtete ihn. Sie wollte herausfinden, in welcher Verfassung er war. War er müde, überarbeitet oder fahrig, würde sie die Stunde verstreichen lassen und über etwas anderes reden.
»Wollen Sie mich nicht an Ihren Gedanken teilhaben lassen, Gesa?«, fragte er mit einem Lächeln, das ihn zu ihrem Verbündeten machte.
Sie fasste sich ein Herz und formulierte ihre Sätze zunächst im Kopf. »Bevor ich hierherkam«, begann sie schließlich stockend, »da sagte jemand …« Ihr Herz klopfte so stark, als wolle es sie warnen. Sie runzelte die Stirn und sah zu Boden. Der Mut verließ sie.
»Gesa, erinnern Sie sich, was ich Ihnen beim letzten Mal gesagt habe? Dass es helfen kann, eine Last auf mehrere Schultern zu verteilen?«
Ohne ihn anzusehen, nickte sie. »Jemand
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