Die Todesbotschaft
bergauf.
»Außer uns ist doch niemand hier. Ich hocke mich mitten auf den Weg. Und jetzt ab mit euch!« Kerstin grinste und scheuchte uns davon wie zwei Hühner.
Amelie und ich liefen allein weiter, bis meine Schwester nach ein paar Minuten so abrupt stehen blieb, dass ich fast in sie hineingelaufen wäre. Sie wandte sich zu mir um und sah mich hilfesuchend an. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie stammelte, sie fühle sich so gespalten. Einerseits sei sie froh, nach der vergangenen Woche einen unbeschwerten Tag zu verbringen, andererseits finde sie es bedrückend, dass das Leben einfach so weiterginge, nur eben ohne Hubert und Cornelia. Die beiden seien gerade mal eine Woche tot.
Wohl wissend, wovon sie sprach, nahm ich sie in den Arm und legte meine Wange an ihre. Mir ging es ähnlich. Als ich am Morgen aufgewacht war, hatte ich mich fast geschämt, so tief und fest geschlafen zu haben. Wir lehnten uns gegen den Hang, und ich kramte Papiertaschentücher aus meinem Rucksack.
»Wie kommt Adrian damit klar?«, fragte ich.
»Gar nicht«, antwortete sie, nachdem sie sich die Nase geschneuzt hatte. »Er ist wie ein Schatten seiner selbst.«
»Bleibt ihr noch bei Carl?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe gestern das Haus auf den Kopf gestellt und alle Whiskeyflaschen ausgegossen. Das verzeiht er mir nicht. Wir packen nachher und fahren nach München zurück.«
Ich sah den Weg hinauf, den wir gekommen waren, und hielt nach Kerstin Ausschau. »Sag mal, müsste sie nicht längst hier sein?«
Amelie folgte meinem Blick und zuckte die Schultern. »Sie wird schon kommen.«
Doch mich hatte ein seltsames Gefühl beschlichen. »Ich gehe mal nachsehen.«
»Kerstin ist schon groß«, versuchte meine Schwester, mich zurückzuhalten.
Aber ich winkte ab und lief weiter bergauf. Ich erinnerte mich noch genau an die Stelle, an der wir uns getrennt hatten. Wie sich zeigte, war es ein ganzes Stück bis dorthin. Als ich ankam und Kerstin nirgends entdecken konnte, rief ich nach ihr.
»Hey, Kerstin, das ist nicht lustig. Wo immer du dich versteckst, komm raus! Sofort!« Ich stellte mich an den Rand des Weges, sah in die Tiefe und suchte den Hang ab. Dann lief ich noch ein Stück weiter bergauf.
Amelie stieß zu mir und meinte, Kerstin würde sich sicher einen ihrer derben Scherze mit uns erlauben. Sie folgte meinen Blicken. »Sie ist wie eine Gämse.« So, wie sie es sagte, klang es eher wie eine Selbstberuhigung. »Wäre sie da irgendwo runtergestürzt, hätten wir sie schreien gehört.«
Trotzdem liefen wir den Weg Schritt für Schritt wieder bergab, ohne dabei unsere Blicke vom Abhang zu lösen.
»Da«, hauchte Amelie plötzlich. »Siehst du da nicht auch etwas Pinkfarbenes?« Ihr Zeigefinger wies in die Tiefe.
Ich sah sofort, was sie meinte, und betete, dass nicht Kerstins T-Shirt dieses Etwas war, das dort zwischen den Büschen hervorstach. Mein Herz klopfte so stark, dass ich es bis in den Hals spürte. Ich schrie, Kerstin solle mit dem Unsinn aufhören und uns nicht einen solchen Schrecken versetzen. Während der endlosen Sekunden, die wir da standen und warteten, redete ich mir ein, dass sie nie und nimmer beim Pinkeln den Hang hinuntergestürzt sein konnte. Das war einfach unmöglich. Was dort unten lag, war mit Sicherheit eine Plastiktüte.
»Wir müssen etwas tun«, weinte Amelie und krallte ihre Finger in meinen Oberarm. »Finja, du musst da runter und nachsehen.« Sie zog mich zum Rand des Weges und schrie den Namen ihrer Freundin. Aber nichts rührte sich.
»Du bleibst hier! Hörst du?«
Sie nickte.
Vorsichtig begann ich, den Abhang hinunterzuklettern. Ich hielt mich an Baumwurzeln fest, rutschte ein paar Meter tiefer, bis ich wieder eine Wurzel zu fassen bekam. Es schien ewig zu dauern, bis ich die Stelle erreichte. Den Anblick, der sich mir dort bot, sollte ich nie vergessen. Er brannte sich im Bruchteil einer Sekunde in mein Gehirn.
Kerstin hing mit blutig geschürften Armen über einem Baumstamm, der ihren Sturz offensichtlich gestoppt hatte. Ihre Hose musste an irgendetwas Spitzem hängengeblieben sein, sie hatte einen langen Riss, der sich in der Haut darunter fortsetzte. Es kam mir vor, als sei ich in eine Zeitschleife geraten, die alles verlangsamte. Ich sah in ihr zerkratztes, blutiges Gesicht und in ihre halb geschlossenen Augen. Am schlimmsten aber war ihr Kopf. Er hing in einem Winkel zur Seite, der selbst für eine Laiin wie mich jede Hoffnung zunichtemachte.
Ich kniete mich neben sie,
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