Die Todesbotschaft
blank.
*
Bisher hatte Doktor Radolf mittwochs nie Zeit für sie gehabt. Sie hatten sich immer nur an Dienstagen und Donnerstagen gesehen. Gesa saß angespannt vor seinem Schreibtisch. Es musste etwas zu bedeuten haben, dass er sie außer der Reihe zu sich rief. Aber anstatt ihn zu fragen, biss sie auf ihrer rissigen Unterlippe herum. Solange sie den Grund nicht kannte, konnte sie hoffen. Vielleicht durfte sie ihr Baby sehen. Endlich – nach so unerträglich langer Zeit. Selbstverständlich würden sie Finja nicht allein mit ihr lassen. Aber das spielte keine Rolle. Sie wollte sie nur im Arm halten, sich vergewissern, dass es ihr gutging. Ihr sagen, dass alles wieder gut würde.
»Wie geht es Ihnen heute, Gesa?«, fragte Doktor Radolf in ihre Gedanken hinein.
»Gut, sehr gut! Ich denke die ganze Zeit über an mein Baby. Können Sie sich vorstellen, wie schwer es ist, hier zu sein, anstatt …« Sie drängte die Tränen zurück, sie durfte jetzt nicht weinen.
Er nickte. »Sie werden nicht mehr lange hier sein, Gesa. Ich habe mich dafür ausgesprochen, Sie in der kommenden Woche zu entlassen. Sie haben sich gut stabilisiert.« Er schien zu warten, welche Wirkung seine Worte auf sie ausübten.
Gesa traute sich nicht zu atmen und hielt die Luft an. Sie forschte in seinem Gesicht, ob dessen Ausdruck hielt, was er ihr da gerade versprochen zu haben schien. »Wirklich?«, brachte sie schließlich kaum hörbar heraus.
»Wirklich«, antwortete er mit einem Lächeln. Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Gesa, ich will gar keinen Hehl daraus machen, dass ich darauf gehofft hatte, Ihre Erinnerung an das Ereignis in jener Nacht würde zurückkehren. Aber das lässt sich nicht erzwingen. Ich denke, es braucht noch viel mehr Zeit. Nach Ihrer Entlassung können Sie jederzeit zu mir kommen und mit mir reden, falls irgendetwas Sie belastet oder Sie anfangen, sich zu erinnern. Ich möchte, dass Sie das wissen.«
Sie nickte. »Sie haben gesagt, ich würde nicht mehr lange hier sein … wie lange …?« Sie hob die Schultern, als versuche sie gleichzeitig, sich für ihre Ungeduld zu entschuldigen.
»Was halten Sie davon, wenn wir Ende nächster Woche ins Auge fassen?«
Was sie davon hielt? Auf einmal hätte sie Purzelbäume schlagen können. Nur ein paar Tage noch, und sie würde Finja wiedersehen. »Viel.« Dieses Wort war nur ein Hauch, deshalb wiederholte sie es. »Viel!«
Doktor Radolf straffte die Schultern. »Dann würde ich sagen, dass es für heute genügt. Sie haben nämlich Besuch.«
Gesa sah ihn überrascht an. In all den Wochen war niemand gekommen, um sie zu besuchen. Ihre Frage stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Alexander Benthien. Er wartet im Garten auf Sie.«
Also hatte er ihr verziehen. Einen Moment lang wusste sie nicht, wohin mit ihrer Aufregung. Es war, als würde ihr Inneres kopfstehen, als würden sich all ihre Ängste auflösen. Ihr Atem ging so schnell, als sei sie gerannt. Gesa strahlte Doktor Radolf an. Sie wollte die Skepsis aus seinem Blick verscheuchen, wollte, dass er sich mit ihr freute. Alexander war endlich gekommen.
»Möchten Sie, dass ich Sie bei diesem Treffen unterstütze, Gesa?«, fragte er.
Sie lächelte. »Unterstützen? Nein. Danke, Doktor Radolf.« Es hielt sie nichts mehr auf ihrem Stuhl, sie sprang auf. »Darf ich gehen?«
Ihr Arzt ließ einen Moment verstreichen, bevor er antwortete: »Ja, selbstverständlich. Sie wissen, wo Sie mich finden, sollten Sie doch noch …«
Gesa winkte ab. »Machen Sie sich keine Sorgen, Doktor Radolf. Jetzt wird alles gut.« Sie verabschiedete sich von ihm, machte auf dem Absatz kehrt und rannte in ihr Zimmer. Dort kämmte sie sich die Haare und borgte sich von ihrer Zimmernachbarin die Schminke aus. Ihre Finger zitterten jedoch so sehr, dass sie ihr helfen musste, den Lidstrich zu ziehen.
Schließlich sprang Gesa mit klopfendem Herzen die Treppe hinunter. Ihre Vorstellung von dem Treffen mit dem Mann, den sie liebte, hätte einen Saal füllen können. Ob er Finja dabeihatte? Trotz allem, was geschehen war und woran sie sich immer noch nicht erinnern konnte, wusste er, wie viel ihr das Kind bedeutete. Bestimmt hatte er sie dabei …
[home]
8
W ährend ich auf mein Elternhaus zuging, betrachtete ich die elektronischen Augen, die mich auf meinem Weg verfolgten. Niemand konnte zur Haustür gelangen, ohne von einer der Kameras erfasst zu werden. Dennoch war ich sicher, dass diese Technik Amelies Leben nicht hätte retten können.
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