Die Todesbotschaft
Mutter. Wenn stimmte, dass Kleider Leute machten, waren meine die falschen gewesen. Den Behauptungen meines Vaters hatten sie nichts entgegensetzen können. Ich zog die Anzugjacke aus und legte sie über die Lehne der Gartenbank.
»Hast du Durst?«, fragte Elly.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich aber. Warte einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.«
Was Düfte anging, begegneten mir an diesem Nachmittag Extreme – erst Carls Mief und dann Ellys Blütenmeer. Dessen Duft war unerträglich schön. Genauso wie die Farben, die mir selbst durch meine Sonnenbrille betrachtet wie ein Rausch erschienen. Ich schloss für einen Moment die Augen.
Das Klimpern von Eiswürfeln in einer Glaskaraffe kündigte Ellys Rückkehr an. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und füllte jeder von uns ein Glas mit Wasser. Dann setzte sie sich neben mich. »Sobald du etwas getrunken hast, sagst du mir, was du auf dem Herzen hast.«
Ich griff nach dem Glas, nahm einen kleinen Schluck und stellte es zurück auf den Tisch. »Elly, du kannst es mir ehrlich sagen, wenn an der Sache mit der Halbschwester etwas dran ist. Weißt du irgendetwas darüber?«
Sie wandte den Kopf in eine andere Richtung. »Ich hab dir doch schon gesagt …«
»Seit ich denken kann, frage ich mich, warum meine Mutter mich mit einem anderen Blick ansieht. Ich finde, ich bin langsam alt genug für die Wahrheit.«
Ihr kaum hörbares Stöhnen schien zum Ausdruck zu bringen, was sie nicht sagen wollte: Dass sie es immer gewusst hatte, dass es eines Tages so hatte kommen müssen. »Manchmal ist es besser, die Dinge ruhen zu lassen, Finja«, machte sie einen letzten schwachen Versuch.
»Erklär es mir, bitte!«
Sie zog die Schultern hoch, als friere sie. »Ich bin erst kurz nach dieser Sache in euren Haushalt gekommen. Und so richtig weiß ich gar nicht, was damals geschehen ist. Willst du nicht lieber deinen Vater danach fragen?«
»Nach welcher Sache?«
»Nach der Sache mit deiner leiblichen Mutter. Sie hat dich bei deinen Eltern gelassen, als du ein halbes Jahr alt warst.«
»Das heißt, die beiden sind gar nicht meine leiblichen Eltern?«, fragte ich völlig perplex. Einen Moment lang kam es mir vor, als habe Elly mir einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Kopf geschüttet.
»Alexander Benthien ist dein leiblicher Vater.« Elly schien Kämpfe mit sich auszufechten. Und sie fühlte sich ganz offensichtlich mehr als unwohl. Zwischen Daumen und Zeigefinger knetete sie die Haut ihres leichten Doppelkinns – bei ihr ein Zeichen großer Nervosität. »Finja, ich habe versprochen, nie Gebrauch von meinem Wissen zu machen. Daran habe ich mich bisher immer gehalten.«
»Wer ist meine Mutter?«
Elly presste die Lippen zusammen und atmete hörbar ein und aus. Schließlich fasste sie einen Entschluss, stand auf und forderte mich auf, mitzukommen. Im Auto gab sie mir als Fahrtziel Rottach-Egern an und blickte stur auf die Straße.
»Lebt sie etwa auch in Rottach-Egern?«, fragte ich ungläubig. »Oder willst du mich zu meinem Vater bringen?«
»Ich komme in Teufels Küche, Finja, ist dir das klar?«
»Weil ich meine Mutter kennenlernen möchte?«
Aber es war nichts weiter aus ihr herauszubekommen. Lediglich wenn ich irgendwo abbiegen musste, machte sie den Mund auf. Auf diese Weise dirigierte sie mich zum Alten Friedhof. Als mir klar wurde, wo wir hielten, hätte ich mir fast an die Stirn gefasst. Wie hatte ich auch nur eine Sekunde lang annehmen können, meine leibliche Mutter lebe in Rottach-Egern, in dem Ort, in dem ich aufgewachsen war?
Wortlos stiegen wir aus. Während ich Elly folgte, hatte ich das Gefühl, mich nach Amelies grausamem Tod geradewegs dem nächsten Abgrund zu nähern. Als wir vor einem schlichten Grab mit einem verwitterten Holzkreuz stehen blieben, heftete sich mein Blick auf die Inschrift. Mehrmals hintereinander flüsterte ich den Namen der Toten, wie um mich zu vergewissern, dass ich keiner Täuschung erlag: Gesa Minke. In meinem Kopf flogen die Gedanken durcheinander wie Blätter, die von einem Windstoß aufgewirbelt wurden. Minke war der Mädchenname meiner Mutter. Ich starrte auf Geburts- und Todesdatum. Die Frau, die hier lag und meine leibliche Mutter gewesen sein sollte, war nur fünfundzwanzig Jahre alt geworden. Blitzschnell rechnete ich nach: Zum Zeitpunkt ihres Todes war ich sieben Jahre alt gewesen.
»Erklärst du mir das?«, bat ich Elly, ohne sie anzusehen. Meine Stimme hatte alle Kraft verloren.
Sie bückte sich und
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