Die Todesbotschaft
Ausschließlich darauf konzentrierte ich mich. Atmen, um nicht zu denken. Sobald das Denken einsetzte, wurde ich von Bildern überschwemmt: Amelie in einem dunklen, kalten Fach in der Rechtsmedizin. Gesa, meine leibliche Mutter, wie sie ihrem Baby ein Kissen aufs Gesicht drückte. Ich versuchte, diese Bilder durch andere zu ersetzen, aber sie waren übermächtig.
»Frau Benthien?«
Ich schrie auf.
»Entschuldigen Sie«, sagte Richard Stahmer, »ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Was tun Sie hier?« Die Angst war so plötzlich da, als hätte ich nur einmal kurz mit den Fingern geschnippt. Ich sah mich nach allen Seiten um. Wo waren die Leute, die mein Vater zu meinem Schutz abbestellt hatte? »Ich will sofort wissen, was Sie hier machen«, sagte ich hysterisch und bereitete mich innerlich darauf vor, jeden Moment loszusprinten. Richard Stahmer in seiner Berliner Wohnung war eine Sache. Sein plötzliches Auftauchen am Tegernsee eine andere.
Meine Angst schien ihn betroffen zu machen. Mit einer beschwichtigenden Geste trat er zwei Schritte zurück. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber als Sie heute Vormittag anriefen, klangen sie völlig geschockt, als wäre etwas ganz Entsetzliches passiert. Also habe ich angefangen zu recherchieren und bin schließlich auf die Nachricht gestoßen, dass gestern in München eine Amelie Graszhoff umgebracht wurde. Wie ich schließlich herausfand, war sie Ihre Schwester.«
»Warum tun Sie das?«, fragte ich schwach. »Das geht Sie doch überhaupt nichts an.«
»Nennen Sie es einen beruflichen Reflex. Es …«
»Und dann sind Sie ins nächste Flugzeug gestiegen?« Um einen größeren Abstand zwischen uns zu schaffen, wich ich einen großen Schritt zurück und gab ihm zu verstehen, dass er nur nicht versuchen sollte, ihn wieder zu verringern.
»Nicht allein daraufhin. Ich habe für morgen in München einen geschäftlichen Termin vereinbart, der längst überfällig war.« Er hob die Schultern und ließ sie fallen, während er hörbar ausatmete. »Ich weiß, es war eine blödsinnige Idee. Wir kennen uns kaum und …« Mit beiden Händen fuhr er sich durch die blonden Haare.
»Sie hätten mich anrufen können, anstatt mir hier aufzulauern. Es gibt schließlich Handys.« Der Schreck saß mir immer noch in den Gliedern.
»Ich habe es versucht, aber es schaltete sich nur die Mailbox ein. Also bin ich in Ihre Straße gefahren. Und da kamen Sie gerade aus dem Tor gelaufen …«
»Woher wissen Sie, wo meine Eltern wohnen? Ich meine, wo sie genau wohnen?«
»Das herauszufinden war nicht so schwer.«
Ich sah zu Boden und schob mit einem Fuß Kieselsteine hin und her. Konnte ich ihm all das glauben, oder wollte ich es nur?
»Wenn ich nun schon einmal hier bin, darf ich Sie dann ein Stück am See entlangbegleiten?«, fragte er.
»Eigentlich bin ich hierhergegangen, um allein zu sein.«
»Verstehe.« Unschlüssig trat er von einem Fuß auf den anderen. »Dann sehen wir uns in Berlin?«
Ich nickte und wartete, welche Richtung er einschlug, um in die entgegengesetzte weiterzugehen. Als ich sein Zögern wahrnahm, wurde ich schwankend. »Wir können uns auch einen Moment dorthin setzen.« Ich zeigte auf eine Bank, die unter einer Laterne stand. »Vorausgesetzt, Sie stellen mir keine Fragen.«
»Es ist schwer, ein Gespräch ganz ohne Fragen zu führen«, meinte er mit einem leisen Lachen. »Insbesondere für einen Journalisten.«
Dieses Lachen katapultierte mich wieder in seine Wohnung, in diese andere Welt, die es zum Glück immer noch gab. Ich muss fort von diesem See, dachte ich, zurück nach Berlin. Nach Amelies Beerdigung würde ich abreisen. Und darauf hoffen, dass es mir gelang, all das, was geschehen war, in kleinen Schritten zu verarbeiten.
»Sind Sie nächste Woche in Berlin?«, fragte ich Richard Stahmer.
»Ich dachte, wir wollten ein Gespräch ohne Fragen führen.« Er schlug ein Bein über das andere und ließ seinen Blick über den See schweifen, in dem sich die Abendlichter spiegelten. »Obwohl ich jede Menge Fragen an Sie hätte. Zum Beispiel die, ob Sie sich vorstellen können, mich irgendwann Richard zu nennen.«
»Kann ich.« Ich hielt mein Gesicht in den Wind und wünschte mir, die Straßenlaterne würde wie von Geisterhand ausgeschaltet. In diesem Moment sehnte ich mich nach nichts mehr als nach Dunkelheit. Als könnte mit dem Licht auch die Vergangenheit ausgeschaltet werden. Ich sprang auf und lief über die Steine zum Ufer. Fort vom Licht und der
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