Die Todesbotschaft
ich Elly Luft holen. »Du warst nie preußisch. Du hast mir beigebracht, die Regeln zu hinterfragen. Warum dann dieser Kadavergehorsam meinem Vater gegenüber? Er hätte dir nie und nimmer gekündigt, das weißt du.«
Elly schwieg und nestelte weiter an ihrer Schürze herum. »Meine Arbeit hätte er nicht gekündigt. Das nicht. Aber vielleicht das Haus hier. Und wohin hätten wir dann gehen sollen? Wir haben beide nicht genug verdient, um uns so ein Haus leisten zu können.«
»Das Haus gehört meinem Vater?«
Sie nickte. »Wir wohnen hier mietfrei. Aber das Wohlwollen deines Vaters gibt es nicht umsonst. Ich bete, dass er keine Schwierigkeiten macht, weil ich mit dir zum Friedhof gefahren bin.«
Ich legte die abgeknickte Rose auf den Tisch und setzte mich wieder neben sie. »Ich denke, er hat im Moment andere Sorgen. Am Freitag wird Amelie beerdigt. In aller Stille. Das ist Adrians ausdrücklicher Wunsch.«
Elly schob sich ein Kissen in den Rücken und lehnte sich zurück. Einen Moment lang schloss sie die Augen. Dann öffnete sie sie wieder und fuhr mit dem Fingernagel durch eine Rille in der Armlehne. »Damals, als das mit deiner leiblichen Mutter passierte, war es ähnlich. Da gab es auch ein Verbrechen, das alles andere überschattete. Vielleicht konnte dein Vater die Sache deshalb so schnell unter den Teppich kehren.« Sie stand auf, füllte Wasser in einen Tonuntersetzer und legte die Blüte hinein.
»Was für ein Verbrechen?«, fragte ich.
Mit einem leisen Stöhnen stemmte Elly die Fäuste in die Lendenwirbelsäule und verharrte sekundenlang so, bis sie sich wieder neben mir niederließ. »Mathilde, die Verlobte von Tobias Rech, ist damals einem Sexualverbrecher zum Opfer gefallen. Er hat sie vergewaltigt und dabei mit einem Würgehalsband für Hunde erdrosselt.« Sie sah auf ihre Unterarme, die von einer Gänsehaut überzogen waren. »In den Jahren danach hat es noch zwei weitere Frauen auf die gleiche Weise erwischt. Den Täter hat man nie gefasst, jedenfalls habe ich nichts davon mitbekommen. Dem Tobias Rech hat es fast den Verstand geraubt. Bevor das geschah, soll er ein ganz lebenslustiger Mensch gewesen sein. Aber obwohl seine Freunde alles getan haben, um ihn zu stützen, hat er sich nie so ganz davon erholt und hat sich mehr und mehr zum Einzelgänger entwickelt.«
»Weißt du etwas über diese Mathilde?«, fragte ich. »Wie sah sie aus?«
Elly dachte nach. »Ich bin ja erst eine ganze Weile nach diesem abscheulichen Verbrechen in euren Haushalt gekommen, insofern habe ich sie nie leibhaftig zu Gesicht bekommen, sondern nur Fotos von ihr in der Zeitung gesehen. Wenn ich mich recht entsinne, war sie Krankenschwester. Und sehr hübsch.«
Gestochen scharf hatte ich das Bild vor Augen, das ich an Tobias’ Schlafzimmerwand gemalt hatte: eine blonde junge Frau in weißer Schwesterntracht, die rauchend an einem Tisch saß und in einem Magazin blätterte.
»Es soll einige Männer gegeben haben«, fuhr Elly fort, »die ein Auge auf sie geworfen hatten. Mit einem soll sie sogar schon verlobt gewesen sein, bevor sie sich dann für Tobias Rech entschieden hat. Es war einer aus der Rudermannschaft.«
»Einer von den Partnern?«, fragte ich verblüfft.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein … es gab doch da noch einen, der …«
»Ach, du meinst Thomas Niemeyer, den ehemaligen Steuermann.«
Elly schaute sich um, ob uns auch niemand belauschte. »An den Namen erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur noch, dass er sehr gut aussah. Der hätte mir gefallen können«, sagte sie im Flüsterton und rollte die Augen. »In meinen ersten Wochen in eurem Haushalt ging er ja bei deinen Eltern noch ein und aus. Später hab ich ihn dann leider nicht mehr gesehen.« Sie wischte mit der Hand über den Tisch, als würden dort Brotkrumen liegen. Aber es war wohl eher die Erinnerung an eine Schwärmerei. Sie zog die Hand zurück und ließ sie in den Schoß fallen. »Und dann habe ich ja auch ziemlich bald Ingo kennengelernt.«
*
Gesa hätte ihn aus hundert Metern Entfernung in einer Menschenmenge erkannt. Als sie ihn im Schatten einer Buche entdeckte, überschlug sich ihr Herz. Sekundenlang blieb sie stehen, um Luft zu holen. Sie war lange nicht mehr gerannt. Dass er Finja nicht bei sich hatte, erkannte sie sofort. Sicher wollte er sie schonen, ihr Zeit lassen. Dicht vor ihm blieb sie stehen. Wie in Zeitlupe hob sie die Arme. »Alex«, sagte sie und tat einen weiteren Schritt auf ihn zu, um ihn zu berühren.
»Lass das
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