Die Todesbotschaft
davon würde Elly von ihren Pflanzen fernhalten. Trotzdem fand ich sie nicht. Ich wandte mich zur Haustür und öffnete sie nach einem kurzen Klopfen, um gleich darauf im Flur nach ihr zu rufen. Es dauerte nur Sekunden, da kam sie mit einem durchdringenden »Pst!« die Treppe herunter.
»Ingo schläft, es ist Mittagsruhe«, meinte sie flüsternd und schob mich durch die Tür vors Haus. Allem Anschein nach hatte sie ebenfalls geschlafen.
»Entschuldige, Elly, aber ich muss einfach noch mal mit dir reden.«
Sie zog mich nach hinten in den Garten zur Holzbank und setzte sich neben mich. »Es ist wegen dieser Sache, nicht wahr?« Mit zwei Fingern befestigte sie eine Strähne ihres blonden Haars mit einer Spange.
Ich nickte und ließ den Blick über die Blütenpracht schweifen, die von Insekten umsummt wurde. Es fiel mir schwer, meine Gedanken zu ordnen. »Mein Vater hat mir gestern Abend erzählt, was damals geschehen ist«, begann ich. »Aber etwas will mir nicht in den Kopf, je länger ich darüber nachdenke. Wieso hat niemals irgendjemand mir gegenüber auch nur die leiseste Andeutung gemacht? Da versucht eine Frau, ihr Kind umzubringen, das dann von ihrer Schwester als eigenes angenommen wird, und keiner spricht darüber? Nicht einmal von Mitschülern bin ich darauf angesprochen worden. Und glaub mir, Elly, Kinder tragen alles, was ihnen zu Hause zu Ohren kommt und Klassenkameraden betrifft, in die Schule. Wenn du mich fragst, grenzt das an ein Wunder.«
»Soweit ich weiß, ist die Sache nie über den Kreis der Familie und engen Freunde hinaus bekannt geworden. Allem Anschein nach konnte dein Vater alles ganz schnell vertuschen. Ich selbst habe auch nur durch eine meiner Cousinen davon erfahren, die damals als Küchenhilfe in der Nervenklinik arbeitete, in die Gesa Minke eingeliefert worden war. Dort kursierte das Gerücht, deine leibliche Mutter sei über den Tod ihrer Eltern und die gescheiterte Affäre mit deinem Vater verrückt und zu einer Gefahr für ihr Kind geworden. Die offizielle Version lautete, sie sei aufgrund ihres Alters überfordert gewesen und habe das Baby ihrer bis dahin kinderlosen Schwester anvertraut. Für alle Beteiligten das Beste, so die einhellige Meinung. Jedenfalls habe ich das so einmal von Cornelia Graszhoff gehört.«
»Mein Vater sagt, Gesa habe mir ein Kissen aufs Gesicht gedrückt, um sich dafür zu rächen, dass er sich von ihr getrennt hatte.«
»Wahrscheinlich ist die Wahrheit eine Mixtur aus allem. Du solltest dir das Ganze nicht so sehr zu Herzen nehmen. Es ist lange her.« Elly strich die Schürze ihres Dirndls glatt.
»Das war doch keine Bagatelle, Elly, wie konnten danach denn alle einfach zur Tagesordnung übergehen? Ich meine, da versucht eine Frau, ihr Baby und sich selbst umzubringen. Als das misslingt, wird sie weggesperrt, und das Baby kommt kurzerhand zur Schwester, weil die sich schon lange ein Kind wünscht. Das klingt so bestechend einfach. Dumm ist nur, dass die menschliche Seele nicht so einfach gestrickt ist. Hat sich denn niemand Gedanken darüber gemacht, was es für eine Frau bedeutet, ein Kind anzunehmen, das aus einer Affäre ihres Mannes stammt?«
»Du warst ja gleichzeitig ihre Nichte, das solltest du dabei nicht vergessen. Man kann deiner Mutter so einiges vorwerfen, aber nicht, dass sie es nicht versucht hätte. Sie muss damals tatsächlich geglaubt haben, sie könne es schaffen und all das ausblenden – dich als ihr Baby ansehen. Aber dann müssen sich die Gedanken verselbständigt haben und in eine ungute Richtung abgedriftet sein: Sollte sie sich jahrelang ein Kind gewünscht haben, nur um dann eines aus der Affäre ihres Mannes mit ihrer Schwester zu bekommen? Wofür sollte sie auf diese Weise bestraft werden? Je stärker sie sich schließlich von dir zurückzog, desto mehr hast du geschrien. So habe ich es mir zumindest erklärt, als ich in euren Haushalt geholt wurde und ein wenig über die Hintergründe erfuhr.«
»Warum hast du mir nie die Wahrheit gesagt, Elly? Ich habe doch oft genug gefragt.«
»Es hätte nichts geändert.«
Ich sah sie an, als hätte ich mich verhört. »Es hätte sehr wohl etwas geändert. Ich hätte wenigstens verstanden, warum sie mir gegenüber immer auf Distanz blieb. Du hättest dich auf meine Seite stellen müssen, auch wenn du das Versprechen, das du meinem Vater gegeben hast, damit gebrochen hättest.« Ich stand auf und knickte den Stengel einer Rose um, die gerade aufgeblüht war. Hinter mir hörte
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