Die Todesliste
wird. So schnell, wie die angloamerikanischen Militärführer sich dazu beglückwünschen, hundert, zweihundert oder dreihundert Talibankämpfer »eliminiert« zu haben, so schnell tauchen einfach wieder neue auf.
Manche kommen aus der afghanischen Bauernbevölkerung, wie sie es immer getan haben. Einige melden sich zu den Waffen, weil Verwandte – und in dieser Gesellschaft kann eine Großfamilie an die dreihundert Personen umfassen – getötet worden sind, durch eine fehlgeleitete Rakete, einen falsch dirigierten Fliegerangriff oder unachtsames Artilleriefeuer. Andere kommen, weil die Stammesältesten ihnen befehlen zu kämpfen. Aber es sind junge, kaum erwachsene Männer.
Jung sind auch die Studenten aus Pakistan, die scharenweise von den religiösen Schulen kommen, den madrasa , wo sie jahrelang nichts als den Koran studieren und den extremistischen Imamen zuhören, bis sie darauf abgerichtet sind zu kämpfen und zu sterben.
Doch die Talibanarmee ist anders als jede andere. Ihre Einheiten sind weitgehend an die Gegend gebunden, aus der sie hervorgegangen sind, und ihre Ehrfurcht vor ihren alten, erfahrenen Befehlshabern ist grenzenlos. Eliminiert man die Veteranen, bekehrt man die Clanchefs, gewinnt man die Stammesführer, kann ein ganzer Bezirk den Kampf einfach aufgeben.
Schon seit Jahren streifen britische und amerikanische Special Forces, verkleidet als Bergbewohner, durch die Wildnis und bringen die mittleren und oberen Ränge der Talibanführer zur Strecke, weil sie davon ausgehen, dass die kleinen Fische im Grunde nicht das Problem sind.
Parallel zu den Operationen der Nachtjäger bemüht sich das Reintegrationsprogramm, die Veteranen »umzudrehen« und dazu zu bringen, den Ölzweig entgegenzunehmen, den die Kabuler Regierung ihnen entgegenhält. An diesem Tag in dem Dorf Qala-e-Zai vertraten Major General Hook und sein australischer Assistent Captain Chris Hawkins die »Force Reintegration Cell«, die dieses Aussteigerprogramm durchführte und kontrollierte. Die vier graubärtigen Talibanführer, die da an der Wand kauerten, hatte man aus den Bergen gelockt, um sie zur Rückkehr ins Dorfleben zu überreden.
Wie immer beim Angeln, braucht man einen Köder. Ein Reintegrierungswilliger muss einen Kurs zur Deindoktrination absolvieren. Dafür bekommt er ein Haus und eine Schafherde, damit er die Landwirtschaft wiederaufnehmen kann, und außerdem Amnestie und das afghanische Äquivalent von hundert Dollar pro Woche. Das Zusammentreffen an diesem strahlenden, aber kalten Maimorgen diente dem Versuch, die Veteranen davon zu überzeugen, dass die religiöse Propaganda, der sie jahrelang ausgesetzt gewesen waren, falsch sei.
Da sie Paschtu sprachen, konnten sie den Koran nicht lesen, und wie alle nichtarabischen Terroristen waren sie dem gefolgt, was die Dschihadistenausbilder ihnen erzählt hatten, von denen viele sich als Imame oder Mullahs ausgaben, ohne es zu sein. Deshalb war ein paschtunischer Mullah oder maulvi anwesend, der den Veteranen erklären sollte, wie man sie getäuscht hatte und dass der Koran in Wahrheit ein Buch des Friedens sei, das nur wenige Stellen über das »Töten« enthalte, die von den Terroristen absichtlich aus dem Zusammenhang gerissen wurden.
In der Ecke stand ein Fernsehgerät, ein Gegenstand der Faszination für die Bergbewohner. Es zeigte aber kein Liveprogramm, sondern eine DVD von einem daran angeschlossenen Player. Der Mann auf dem Bildschirm sprach Englisch, aber der Mullah konnte mit der Pausentaste der Fernbedienung den Wortstrom unterbrechen, um zu übersetzen, was der Prediger gesagt hatte, und dann zu erklären, dass es im Sinne des heiligen Koran lauter Unsinn sei.
Einer der vier, die da auf dem Boden hockten, war Mahmud Gul, der schon zur Zeit von Nine/Eleven ein hochrangiger Kommandant gewesen war. Er war noch keine fünfzig, doch dreizehn Jahre in den Bergen hatten ihn altern lassen. Das Gesicht unter dem schwarzen Turban war runzlig wie eine Walnuss, und die knotigen Hände schmerzten von einer beginnenden Arthritis.
Als junger Mann war er indoktriniert worden, aber nicht gegen die Briten und die Amerikaner, die, wie er wusste, mitgeholfen hatten, sein Volk von den Russen zu befreien. Mahmud Gul wusste wenig über Bin Laden und seine Araber, und was er wusste, gefiel ihm nicht. Er hatte gehört, was vor Jahren in Manhattan passiert war, und er billigte es nicht. Zu den Taliban war er gegangen, um gegen die Tadschiken und Usbeken der Nordallianz zu
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