Die Todesspirale
… Wir müssen jetzt wirklich gehen.»
Ich trank meinen Tee aus und stand auf. Zu gern hätte ich die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, mit jeman-dem besprochen. Am besten fuhr ich noch einmal zur Dienststelle. Ich wollte mit Taskinen reden und mit seiner Tochter auch.
«Hat Silja heute Training?», fragte ich Elena Grigorieva im Treppenhaus.
«Um fünf. Aber stören Sie uns bitte nicht wieder. Die Kanadareise rückt näher, und wir brauchen so viel Zeit auf dem Eis wie nur möglich. Das Leben muss weitergehen, trotz Nooras Tod.»
Das Leben muss weitergehen. Vielleicht hatte sie das nach dem Tod ihres Mannes auch gedacht. Für viele kleine Eiskunstläufer war es ein Glück, dass Elena beschlossen hatte, ihr Leben hier in Espoo weiterzuführen. Und wer weiß, vielleicht liebte sie Tomi Liikanen, wie konnte ich mir ein Urteil über die Herzensangelegenheiten anderer Menschen anma
ßen?
Als ich den Gang zu unserer Abteilung betrat, stürzte sich der Dienst habende Beamte geradezu auf mich.
«Wo warst du? Ström hat dich überall gesucht!»
Nun fiel es mir wieder ein: Ich hatte das Handy während der Vorsorgeuntersuchung abgestellt, um die Übertragung der Herzgeräusche nicht zu stören.
«Ström ist mit Koivu und eurem gestrigen Fang im Vernehmungsraum drei.»
«Wozu brauchen sie mich denn dabei?», murmelte ich vor mich hin, brachte den Mantel in mein Büro und wechselte die Schuhe. Die Rückenschmerzen machten sich erneut be-merkbar, vielleicht waren sie eine späte Folge meiner Begegnung mit dem Sandsack. Als ich mich einen Moment auf das Sofa setzte, legte sich die Müdigkeit über mich wie ein Tuch, das man über einen Papageienkäfig breitet. Ich verspürte nicht die geringste Lust, mir Ströms Gepolter anzuhören und dem erbärmlichen Kinderschänder gegenüberzutreten, der neben dem Freiheitsentzug eine zweite, schlimmere Strafe zu erwarten hatte: die Pariastellung in der Gefängnishierar-chie.
Als ich auf den Gang zum Vernehmungsraum kam, stand Koivu am Getränkeautomat.
«Gut, dass du da bist», seufzte er. «Diese Vernehmung ist die reine Hölle. Wäre ich doch lieber Kindergärtner geworden!»
«Was ist denn los?», fragte ich. Derartige Ausbrüche kamen bei Koivu selten vor, im Allgemeinen verlor er selbst in schwierigen Situationen nicht den Humor. Insgeheim vermutete ich den Grund für seine Gemütsruhe in der idealisti-schen Vorstellung von der Polizeiarbeit, die er sich in seinen fünf Dienstjahren bewahrt hatte. Wahrscheinlich glaubte er immer noch, wir könnten wirklich etwas gegen die Kriminalität ausrichten.
«Ich sitz schon den ganzen Tag mit drei Verrückten zusammen! Ström spielt den wilden Mann. In der letzten Zigaret-tenpause hat er gesagt, die beste Strafe für den Kerl wäre es, ihn in den Keller zu sperren und die Väter der missbrauchten Mädchen mit Baseballschlägern reinzuschicken. Sariola, unser Ganove, greint bloß. Und sein Anwalt streitet alles ab.»
«Trink Coca Cola, das hilft, sagen die Werbefritzen. Nimm für mich auch eine», sagte ich und drückte ihm ein Zehn-markstück in die Hand. Ström kam vom Balkon zurück. Sein Gesicht hellte sich bei meinem Anblick keineswegs auf.
«Ist der Bericht über die Festnahme fertig?», schnauzte er, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
«Ich hatte noch keine Zeit.»
«Der Haftprüfungstermin ist morgen um drei. Da brauch ich den Bericht, und dich auch.»
«Du hast doch Beweise genug. Hat er irgendwas zugegeben?»
«Er hätte längst geredet, wenn dieser Anwalt sich nicht so aufführen würde, als wäre ich der Verbrecher und nicht dieser verdammte Wichser!»
«Wozu brauchst du mich bei der Sache?»
«Morgen früh müssen wir mit den Gegenüberstellungen anfangen. Die ersten kleinen Mädchen kommen um zehn.
Sie würden sich bestimmt wohler fühlen, wenn eine Frau dabei ist …»
Widerwillen musste ich lachen.
«Also wirklich, Pertsa! Verglichen mit mir bist du doch ein regelrechter Kinderexperte, du hast ja selber zwei! Mein Baby ist immer noch hier drin», ich klopfte auf meinen Bauch,
«also rechne bitte nicht auf meine Hilfe. Nicht nur Frauen können mit Kindern umgehen. Außerdem ist bestimmt eine Sozialarbeiterin dabei. Sonst noch was?»
Ich wunderte mich über Ströms Drang, mich zu beschäftigen, denn nach dem Vorfall mit den Kufenschonern hatte ich eher damit gerechnet, dass er mir aus dem Weg gehen würde.
Vielleicht wollte er die Zusammenarbeit als Vorwand nutzen, um mich
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