Die Toechter der Familie Faraday
wollten die Bücher seinerzeit so gerne lesen. Und wenn sich ihr Ärger gelegt hätte, was dann? Sie würden sich nach dem Lesen genauso elend fühlen wie ich. Oder sogar noch schlechter, denn sie war ihre Mutter. Und glaub mir, Gabriel, an so eine Mutter möchten sie sich nicht erinnern.«
»Ich finde trotzdem, dass du sie ihm zurückgeben musst.«
»Ich nicht.«
»Maggie …«
»Sie war meine Großmutter. Also habe ich in dieser Sache auch etwas zu sagen. Ich möchte die Tagebücher zerstören, bevor sie meiner Familie noch mehr Unheil bringen.« Sie holte tief Luft. »Weißt du, was ich mir wünschen würde, Gabriel? Dass die Gärtner den heutigen Tag für ein großes Feuer ausgesucht hätten und dass ich die Tagebücher in die Flammen werfen und zusehen könnte, wie sie zu Asche zerfallen. Was Leo vor über fünfunddreißig Jahren hätte tun sollen.«
»Und was würdest du ihm sagen?«
»Dass ich gestolpert bin und sie mir versehentlich ins Feuer gefallen sind. Alle neun.«
»Ein sehr wahrscheinliches Szenario.« Gabriel lehnte sich ans Auto und schwieg einen Moment. »Aber ich wollte dir erzählen, ich habe heute Morgen einen sehr interessanten Artikel in der Zeitung gelesen.«
»Ach ja?«, sagte sie verwirrt und auch ein wenig verärgert über diesen plötzlichen Themenwechsel.
Er nickte. »Offenbar hat Dublin im europäischen Vergleich eine sehr hohe Zahl an Bagatelldelikten. Besonders bei Autodiebstahl. Und gerade bei Autos von Touristen. Das muss schrecklich sein. Stell dir vor, du kommst zu deinem Auto zurück und entdeckst, dass es aufgebrochen wurde, das Gepäck fehlt, alles. Anscheinend passiert so etwas ständig.«
»Wirklich?«
Er nickte. »Die Diebe nehmen mit, was auf dem Rücksitz liegt.«
Maggie sah auf den Rücksitz. Dort lag ihre Tasche mit den Tagebüchern.
»Manchmal müssen sie nicht einmal ein Fenster einschlagen«, sagte Gabriel. »Offenbar vergessen manche Touristen tatsächlich, ihr Auto abzuschließen, oder lassen ein Fenster ein wenig offen stehen.«
»Und die Diebe greifen einfach hinein und bedienen sich?«
Gabriel nickte.
»Und was erzählen die Touristen, wenn sie nach Hause kommen? Beispielsweise ihrem Großvater?« Maggie sprach nicht länger hypothetisch. »Würde Leo uns das abkaufen?«
Bevor Gabriel eine Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, beantwortete sie ihre eigene Frage. »Das müsste er wohl, oder? Weil die Tagebücher weg wären.«
Sie dachte nach. Sie stellte sich vor, es gäbe die Tagebücher nicht mehr und niemand sonst, weder Leo noch Clementine, noch irgendeine ihrer Tanten könnten sie lesen oder zufällig finden. Sie fühlte sich augenblicklich erleichtert – ihr würde eine große Last und Sorge genommen. Tessas Worte würden verstummen, was schon vor Jahren hätte geschehen müssen.
Es gab nur ein Problem. Sie müsste Leo belügen. Nicht nur wegen Sadie, was schon schlimm genug war, sondern auch wegen des angeblichen Diebstahls der Tagebücher. Sie müsste den Mann belügen, der immer für sie da gewesen war, den sie liebte, der sich ein Leben lang um sie gesorgt, sie ermutigt und verwöhnt hatte. Sie wusste nicht, ob sie das könnte.
Dann dachte sie an die Alternative. Wie es wäre, wenn alle Tessas Worte lesen, und welchen Kummer das verursachen würde. Maggie dachte daran, was ihr all die Jahre über Sadie erzählt worden war. Sie dachte an Leos Geschichten über Tessa, den Mythos, den er um sie herum erschaffen hatte. Sie dachte daran, dass Leo Clementine und ihren Tanten erzählt hatte, dass er die Tagebücher verbrannt hätte, obwohl er sie doch in Wahrheit all die Jahre aufbewahrt hatte.
Da wusste Maggie, dass auch sie lügen könnte, wenn es sein musste. Schließlich war es gute alte Familientradition.
44
Als sie fünf Stunden später auf das Haus zufuhren, war Maggie ganz ruhig. Sie hatte mit Gabriel alle möglichen Szenarien durchgespielt. Gabriel hatte ihr Fragen gestellt, die Leo möglicherweise stellen könnte, und Maggie hoffte, dass sie nun auf alle eine gute Antwort wusste.
Sie hatten sich entschieden, nicht länger in Dublin zu bleiben. Sie waren zur Pension zurückgefahren, hatten ihre Taschen gepackt und ausgecheckt. Gegen zehn Uhr waren sie schon wieder auf dem Heimweg. Maggie hatte Leo weder angerufen noch ihm eine SMS geschrieben. Sie wollte warten, bis sie ihm gegenüberstand.
Ein wenig außerhalb von Dublin hatten sie angehalten. Gabriel hatte sich in der Pension erkundigt. Es gab einen Recyclinghof, an der
Weitere Kostenlose Bücher