Die Toechter der Kaelte
Jeanette erwartet hatte, daß sie kommen würde, oder ob ihr die Situation völlig absurd erschien und sie nicht richtig damit umzugehen wußte. Jedenfalls zeigte Jeanettes Gesicht keine Überraschung, sie nickte nur und ging in die Küche. Charlotte folgte ihr. Neugierig schaute sie sich in der Wohnung um. Sie sah wohl ungefähr so aus, wie sie erwartet hatte. Eine kleine Zweizimmerwohnung mit vielen Kiefernmöbeln, Rüschgardinen und Souvenirs von Auslandsreisen als auffälligste Dekoration. Vermutlich sparte sie jede entbehrliche Ore für Partyreisen in die Sonne, und diese Reisen stellten bestimmt den Höhepunkt ihres Leben dar. Außer natürlich, daß sie mit verheirateten Männern schlief, dachte Charlotte bitter und nahm am Küchentisch Platz. Sie fühlte sich nicht so selbstsicher, wie sie zu wirken glaubte. Ihr Herz schlug nervös und heftig. Aber sie war ganz einfach gezwungen, der anderen persönlich in die Augen zu schauen. Um zum ersten Male zu sehen, welcher Typ Frau der Anlaß war, daß ein Stündchen in den Federn für ihn schwerer wog als Ehegelöbnis, Kinder und Anständigkeit.
Zu ihrer Verwunderung war Charlotte enttäuscht. Sie hatte sich immer vorgestellt, daß Niclas’ Liebhaberinnen eine ganz andere Klasse hätten. Sicher war Jeanette hübsch und kurvenreich, davor konnte sie die Augen nicht verschließen, aber sie war so … sie suchte nach dem richtigen Wort … so nichtssagend. Sie strahlte keine Wärme aus, keine Energie, und nach dem, was Charlotte von ihr und ihrer Wohnung sah, schien sie weder die Kapazität noch den Ehrgeiz zu haben, etwas anderes zu tun als gleichgültig mit dem Strom mitzuschwimmen.
»Hier«, sagte Jeanette unwirsch und stellte Charlotte eine Tasse hin. Dann nahm sie auf der anderen Seite des Tisches Platz und nippte nervös an ihrem Kaffee. Charlotte registrierte, daß ihre Fingernägel lang und perfekt manikürt waren. Noch so eine Sache, die es in der Welt von Müttern mit Kleinkindern nicht gab.
»Bist du erstaunt, mich hier zu sehen?« fragte Charlotte und betrachtete ihr Gegenüber mit scheinbarer Ruhe.
Jeanette zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Vielleicht. Ich hab nicht so viel über dich nachgedacht.«
Sie ist zumindest ehrlich, dachte Charlotte. Ob Aufrichtigkeit dahintersteckte oder pure Dummheit, konnte sie noch nicht sagen.
»Hast du gewußt, daß Niclas von dir erzählt hat?«
Erneut dasselbe lässige Schulterzucken. »Ich wußte ja wohl, daß es früher oder später herauskommt.«
»Woher wußtest du das?« fragte Charlotte.
»Die Leute hier reden doch so viel. Irgendeiner hat irgendwo immer was gesehen und fühlt sich dann veranlaßt, es weiterzutratschen.«
»Klingt, als ob du dieses Spiel nicht das erste Mal mitspielst«, sagte Charlotte.
Ein kleines Lächeln erschien in Jeanettes Mundwinkeln. »Kann ja wohl nichts dafür, daß die Besten oft schon vergeben sind. Was die aber nicht sonderlich zu kümmern scheint.«
Charlottes Augen wurden schmal. »Also Niclas hat es auch nicht weiter gekümmert? Daß er verheiratet war und zwei Kinder hatte?« Sie stolperte bei dem Wort »hatte« und fühlte, wie die Gefühle sie erneut zu überwältigen drohten. Mit Mühe zwang sie sie zurück.
Ihr Zögern bei der Formulierung hatte Jeanette offenbar einsehen lassen, daß sie gewisse menschliche Pflichten hatte. Steif sagte sie: »Mir tut diese Sache mit der Tochter wirklich leid. Mit Sara.«
»Nimm bitte den Namen meiner Tochter nicht in den Mund«, sagte Charlotte mit einer Eiseskälte, die Jeanette zurückzucken ließ. Sie senkte den Blick und rührte in ihrer Kaffeetasse.
»Beantworte statt dessen meine Frage: Hat es Niclas jemals gekümmert, als er mit dir schlief, daß er zu Hause doch eine Familie hatte?«
»Er hat nicht über euch gesprochen«, sagte Jeanette ausweichend.
»Nie?« fragte Charlotte.
»Wir hatten anderes zu tun, als über euch zu reden«, entschlüpfte es Jeanette, bevor sie begriff, daß sie sich zumindest des guten Eindrucks wegen etwas zurückhalten sollte.
Charlotte betrachtete sie mit Widerwillen. Doch noch mehr Widerwillen und Verachtung empfand sie für Niclas, der offenbar bereit gewesen war, alles, was sie hatten, für das hier wegzuwerfen - für ein dummes, kleinkariertes Girl, das glaubte, die Welt läge ihr zu Füßen, nur weil man sie in der Oberstufe mal zur Lucia der Klasse gewählt hatte. Ja, Charlotte kannte diesen Typ. Zu viel Aufmerksamkeit in den Jahren, als das Unterbewußtsein am meisten zu
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