Die Toechter der Kaelte
erzählte Erica mit großem Enthusiasmus von dem geglückten Schuckeln und daß Maja auf diese Weise tatsächlich eingeschlafen war.
Patrik wirkte skeptisch. »Hat sie vor dem Einschlafen fünfundvierzig Minuten lang geschrien!? Soll das wirklich so sein? Sie sagten doch in der Mütterberatung, wenn sie schreien, dann soll man ihnen die Brust geben. Kann es wirklich gut sein, daß sie derartig schreit?«
Sein Mangel an Enthusiasmus und Verständnis machte Erica wütend. »Natürlich ist es nicht vorgesehen, daß sie fünfundvierzig Minuten lang schreit. Das soll in ein paar Tagen weniger werden, und übrigens, wenn du das für keine gute Idee hältst, dann mußt du eben zu Hause bleiben und dich selber um sie kümmern! Du sitzt schließlich nicht rund um die Uhr hier und stillst!«
Dann brach sie in Tränen aus und rannte ins Schlafzimmer hoch. Patrik blieb am Küchentisch sitzen und fühlte sich wie ein Idiot. Daß er niemals nachdachte, bevor er den Mund aufmachte.
Fjällbacka 1928
Zwei Tage später kam ihr Vater nach Fjällbacka. Sie saß in dem kleinen Zimmer, wo sie vorübergehend Unterkunft gefunden hatte, und wartete, die Hände im Schoß gefaltet. Als er hereintrat, stellte sie fest, daß die Gerüchte wahr waren. Er sah tatsächlich jammervoll aus. Das Haar hatte sich noch weiter gelichtet, und war er ein paar Jahre zuvor noch angenehm rundlich gewesen, konnte man ihn jetzt nahezu fett nennen. Er atmete keuchend, und sein Gesicht glänzte rot vor Anstrengung; dennoch wirkte seine Haut grau, was trotz der Röte nicht verschwinden wollte.
Zögernd trat er über die Schwelle, seine Miene wirkte ungläubig, als er sah, wie klein und dunkel es dort drinnen war, aber als er Agnes erblickte, lief er die wenigen Schritte über die Dielen und umarmte sie fest. Sie ließ ihn gewähren, aber erwiderte seine Umarmung nicht, sondern saß weiter da, die Hände im Schoß. Er hatte sie im Stich gelassen, und nichts konnte das mehr ändern.
August versuchte eine Erwiderung von ihr zu bekommen, aber gab dann auf und ließ sie los. Dennoch konnte er nicht anders, als ihr über die Wange zu streichen. Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.
»Agnes, Agnes, meine arme Agnes.« Er setzte sich auf den Stuhl neben ihr, aber vermied es, sie zu berühren. Das Mitleid in seinem Gesicht widerte sie an. Jetzt fand er es also an der Zeit, hier aufzukreuzen. Vor vier Jahren hätte sie ihn und seine väterliche Fürsorge gebraucht. Jetzt war es zu spät.
Sie weigerte sich hartnäckig, ihn anzusehen, während er mit eindringlicher, von Zeit zu Zeit stockender Stimme zu ihr sprach.
»Agnes, ich verstehe, daß ich falsch gehandelt habe und daß nichts, was ich sage, diese Tatsache ändern kann. Aber laß mich dir helfen, jetzt, wo du es so schwer hast. Komm wieder nach Hause und laß mich für dich sorgen. Es kann wie früher werden, alles kann wie früher werden. Es ist so entsetzlich, was geschehen ist, aber zusammen wird es uns gelingen, daß du vergißt.«
Seine Stimme stieg und fiel in bittenden Wogen, zerschellte jedoch an ihrer harten Schale. Sie empfand seine Worte wie Hohn.
»Bitte, Agnes, komm nach Hause. Du bekommst alles, was du willst.«
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie seine Hände zitterten, und sein bittender Tonfall verschaffte ihr mehr Befriedigung, als sie sich je hätte vorstellen können. Und wie sie davon geträumt hatte, so viele Male während der zurückliegenden dunklen fahre.
Langsam drehte sie ihm ihr Gesicht zu. August nahm das als Zeichen, daß sein Bitten erhört worden war, und versuchte eifrig, ihre Hände zu ergreifen. Ohne eine Miene zu verziehen, zog sie die Hände brüsk an sich.
»Ich fahre am Freitag nach Amerika«, sagte sie und genoß den bestürzten Ausdruck im Gesicht des Vaters.
»A.. .aa. ..merika«, stammelte August, und Agnes sah, wie sich über seiner Oberlippe Schweißtropfen bildeten. Was auch immer er erwartet hatte, das jedenfalls nicht.
»Anders hatte für uns alle die Uberfahrt gekauft. Er träumte von einer Zukunft für uns dort. Ich gedenke seinen Wunsch zu ehren und allein hinzufahren«, sagte sie dramatisch und richtete den Blick vom Vater weg aus dem Fenster. Sie wußte, wie schön ihr Profil im Gegenlicht wirkte, und die schwarze Kleidung unterstrich noch die Blässe, die sie so sorgsam gehütet hatte.
Seit zwei Tagen waren die Menschen um sie herum auf Zehenspitzengeschlichen. Ein kleines Zimmer wurde ihr zur Verfügung gestellt, und man hatte ihr
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