Die Toechter der Kaelte
die im obersten Fach eines Kleiderschranks standen. Vorsichtig stellte er sie aufs Bett und richtete sich kurz auf, um sich den Rücken zu massieren. Seine Umzugskistenschlepperei saß ihm noch immer im Kreuz, und er sah ein, daß wohl demnächst ein Besuch beim Chiropraktiker angesagt war.
»Was hast du da?« erkundigte sich Patrik und blickte von seinem Platz am Boden auf.
»Ein paar Schuhkartons.« Martin nahm den Deckel des ersten ab, untersuchte vorsichtig den Inhalt, aber dann machte er ihn wieder zu. »Nur ein Haufen alter Fotos.« Dann öffnete er den nächsten Karton und entnahm ihm ein abgegriffenes blaues Holzkästchen. Es hatte sich leicht verzogen, daher mußte er ein wenig Kraft aufwenden, um es aufzubekommen. Als Patrik ihn aufstöhnen hörte, blickte er rasch hoch.
Patrik lächelte. »Bingo«, sagte er triumphierend.
Charlotte war eine Weile vor dem Süßigkeitenautomaten auf und ab gelaufen, aber schließlich kapitulierte sie. Wenn man in solchen Momenten keine Schokolade essen durfte, wann dann?
Sie warf ein paar Münzen ein und drückte auf den Knopf, der ihr ein Snickers ins Ausgabefach werfen sollte. In Kingsize, sicherheitshalber.
Sie überlegte, ob sie den Riegel gleich verschlingen sollte, noch bevor sie zurückging, aber sie wußte, daß ihr nur schlecht werden würde, wenn sie ihn zu schnell aß. Also riß sie sich zusammen und kehrte ins Wartezimmer zu Lilian zurück. Und richtig gedacht. Der Blick ihrer Mutter fiel natürlich sofort auf den Schokoriegel in ihrer Hand, und sie sah Charlotte vorwurfsvoll an.
»Weißt du, wieviel Kalorien so ein Ding hat? Du mußt abnehmen, nicht zunehmen, der lagert sich doch sofort an deinem Hintern ab. Wo es dir doch endlich mal gelungen ist, ein paar Kilo loszuwerden …«
Charlotte seufzte. Schon ihr ganzes Leben hörte sie sich diese Leier an. Lilian hatte zu Hause nie irgendwelche Süßigkeiten erlaubt und hielt sich persönlich total zurück, hatte daher auch nie ein Gramm zuviel auf den Rippen. Aber vielleicht war die Verführung gerade deswegen immer so groß gewesen. Charlotte hatte sich Kleingeld aus den Taschen ihrer Eltern stibitzt und war dann zum Kiosk geschlichen, um sich Schokokugeln und Bonbons zu kaufen, die sie noch auf dem Heimweg genüßlich aufaß. Daher hatte sie schon als Halbwüchsige Übergewicht, und Lilian war außer sich. Manchmal hatte sie Charlotte gezwungen, sich ausgezogen vor den großen Spiegel zu stellen, und hatte sie gnadenlos in ihre Rettungsringe gezwickt.
»Schau her. Wie ein fettes Schwein siehst du aus! Willst du wirklich aussehen wie ein Schwein, willst du das?«
In solchen Augenblicken hatte Charlotte sie gehaßt. Außerdem hatte Lilian sich so etwas nur getraut, wenn Lennart nicht zu Hause war. Er hätte es niemals zugelassen. Papa hatte Charlotte immer das Gefühl von Geborgenheit gegeben. Sie war schon erwachsen gewesen, als er starb, aber ohne ihn fühlte sie sich immer noch wie ein hilfloses kleines Mädchen.
Sie betrachtete ihre Mutter, wie sie ihr so gegenüber saß. Sie sah gepflegt aus wie immer, ein scharfer Kontrast zu Charlotte, die sich keine Kleider zum Umziehen von zu Hause mitgebracht hatte. Lilian hingegen hatte sich eine kleine Tasche gepackt, hatte sich jetzt umgezogen und am Morgen frisches Make-up aufgelegt.
Trotzig stopfte sich Charlotte das letzte Stückchen des riesigen Schokoriegels in den Mund und ignorierte Lilians ungnädigen Blick. Daß sie sich tatsächlich um Charlottes Eßgewohnheiten sorgte, während Stig hier um sein Leben kämpfte! Ihre Mutter überraschte sie immer wieder. Aber bei so einer Großmutter war das vielleicht nicht so verwunderlich.
»Warum dürfen wir denn nicht zu Stig?« fragte Lilian frustriert. »Ich verstehe das einfach nicht. Wie können sie seine Angehörigen derart ausschließen?«
»Sie haben sicher ihre Gründe«, beruhigte sie Charlotte, aber dann hatte sie für einen kurzen Moment wieder den seltsamen Gesichtsausdruck des Arztes vor Augen. »Wir wären ihnen bestimmt nur im Weg.«
Lilian schnaubte verächtlich, stand auf und begann demonstrativ auf und ab zu gehen.
Charlotte seufzte. Sie versuchte wirklich, sich ihr Mitgefühl zu bewahren, das sie am Vorabend für die Mutter empfunden hatte, aber die machte es einem so verdammt schwer. Charlotte zog ihr Handy aus der Handtasche, um nachzusehen, ob es noch an war. Komisch, daß Niclas nicht angerufen hatte. Das Display war blind, und erst in diesem Moment bemerkte sie, daß der Akku
Weitere Kostenlose Bücher