Die Toechter der Kaelte
aber ansonsten war ersichtlich, daß sie sich selbst und ihr Aussehen mit demselben Eifer pflegte wie zuvor. Die Haare waren frisch frisiert, jetzt trug Agnes sie hochtoupiert, wie es gerade üblich war, der Eyeliner war, der Mode entsprechend, dick aufgetragen, im Augenwinkel mit dem zeitgemäßen Schlenker, und die Nägel waren genauso lang, wie sie Mary in Erinnerung hatte. Damit trommelte Agnes jetzt ungeduldig auf den Tisch, eine Antwort erwartend.
Es dauerte noch eine Weile, bis Mary den Mund aufmachte. »Nein, ich habe sie nicht gelesen. Und nenne mich nicht >darling<«, sagte sie und wartete gespannt auf die Reaktion. Sie hatte vor der Frau, die hier vor ihr saß, keine Angst mehr. Diese Angst hatte das Monster in ihr aufgefressen, als der Haß immer mehr gewachsen war. Bei so viel Haß blieb kein Platz für die Angst.
Agnes ließ sich eine so großartige Gelegenheit für einen dramatischen Auftritt nicht entgehen. »Du hast sie nicht gelesen?« schrie sie. »Hier sitze ich eingesperrt, während du draußen in Freiheit bist, dich amüsierst und Gott weiß was tust, und die einzige Freude, die ich habe, ist der Gedanke, daß meine liebe Tochter die Briefe liest, auf die ich so viele Stunden verwende. Und keinen einzigen Gruß hast du mir geschickt, kein einziges Mal angerufen in vier fahren!« Agnes schluchzte jetzt laut, aber es flossen keine Tränen. Die würden schließlich den perfekten Lidstrich verderben.
»Warum hast du das getan?«fragte Mary leise.
Agnes hörte umgehend auf zu jammern, zog statt dessen ruhig eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie mit großer Sorgfalt an. Nach einigen tiefen Zügen erwiderte sie mit derselben unheimlichen Ruhe: »Weil er mich verraten hat. Er hat geglaubt, er könnte mich verlassen.«
»Hättest du ihn nicht einfach gehen lassen können?« Mary beugte sich vor, um kein Wort zu verpassen. Sie hatte sich diese Fragen so oft gestellt, daß sie es nicht riskieren konnte, auch nur eine Silbe zu überhören.
»Kein Mann verläßt mich«, wiederholte Agnes. »Ich habe getan, was ich tun mußte«, sagte sie. Dann richtete sie ihren kalten Blick auf Mary und fügte hinzu: »Du weißt doch alles darüber, oder nicht?«
Mary sah weg. Das Monster in ihr bewegte sich unruhig. Sie erklärte übergangslos: »Ich will, daß du das Haus in Fjällbacka auf mich überschreibst. Ich habe vor, dorthin zu ziehen.«
Agnes schien protestieren zu wollen, aber Mary fügte eilig hinzu: »Wenn du in Zukunft irgendwelchen Kontakt zu mir haben willst, dann tust du, was ich sage. Wenn du mir das Haus überschreibst, verspreche ich, deine Briefe zu lesen und dir auch zu antworten.«
Agnes zögerte noch immer, also fuhr Mary rasch fort: »Ich bin das einzige, was du noch hast. Das ist vielleicht nicht viel, aber ich bin einfach das einzige, was du noch hast.«
Ein paar unerträgliche Sekunden lang wog Agnes das Für und Wider ab, schätzte ein, was ihr selbst am besten diente, und schien sich endlich entschlossen zu haben.
»Nun ja. Dann machen wir das. Nicht, daß ich begreife, was du in diesem Kaff willst, aber wenn du es nun mal möchtest …«
Sie zuckte die Schultern, und Mary spürte, wie Freude in ihr aufstieg.
Dieser Plan war im letzten Jahr in ihr herangereift. Sie würde noch einmal von vorn anfangen, ein ganz neuer Mensch werden. Sie würde all das Alte abschütteln, das wie eine muffige Decke um sie lag. Der Antrag auf Namensänderung war bereits eingereicht, Zugang zum Haus in Fjällbacka zu bekommen war Schritt Nummer zwei, und mit der Veränderung ihres Äußeren hatte sie auch schon begonnen. Während eines ganzen Monats hatte sie keine einzige überflüssige Kalorie zu sich genommen, und der einstündige Fußmarsch an jedem Morgen hatte ein übriges getan. Alles würde anders werden. Ganz und gar neu.
Das letzte, was sie hörte, als sie Agnes im Besuchszimmer verließ, war deren verwunderte Stimme: »Hast du abgenommen?«
Mary schaute nicht zurück. Sie war im Begriff, ein neuer Mensch zu werden.
Am nächsten Tag war der Sturm abgeflaut, und das Herbstwetter zeigte sich von seiner allerbesten Seite. Das Laub, das die Sturmböen überlebt hatte, wiegte sich rot und goldgelb in einer leichten Brise. Die Sonnenstrahlen wärmten zwar nicht, hoben aber die Stimmung und milderten die Kälte, die einem sonst unter die Kleidung kroch.
Patrik saß in der Küche der Dienststelle und seufzte. Lilian weigerte sich immer noch zu reden, trotz aller Beweise gegen sie.
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